Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 9
In der Enzyklika „Dominum et vivificantem“ hat der heilige Johannes Paul II. daran erinnert, dass Gott sich „in der Schöpfung als Allmacht offenbart, die Liebe ist“. Der Mensch sei berufen, an der Wahrheit und Liebe teilzuhaben. Doch er habe sich unter dem Einfluss des Bösen davon gelöst, zwar nicht nach dem „Maß der Sünde Satans“, das der Mensch nicht erreichen könne, aber durch die „Bosheit des Ungehorsams“.
Zum Glauben an die Autonomie des Menschen bekennen sich heute sogar viele Theologen, so als ob die Unabhängigkeit der Person größer, wichtiger und bedeutender sei als die kindliche Liebe des Geschöpfs zu seinem Schöpfer. Wir Katholiken glauben aber nicht an die Emanzipation des Menschen von Gott und seiner Kirche, sondern an den Gott, der die Liebe ist, und an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche. Darum schreibt Johannes Paul II.: „Aber auch dieser Ungehorsam bedeutet immer, Gott den Rücken zu kehren, in gewissem Sinn ein Sichverschließen der menschlichen Freiheit ihm gegenüber. Er bedeutet aber auch eine gewisse Öffnung dieser Freiheit – des Gewissens und des menschlichen Willens – auf den hin, der der »Vater der Lüge« ist. Dieser Akt bewußter Entscheidung ist nicht bloß »Ungehorsam«, sondern bringt auch eine gewisse Zustimmung zu jener Motivation mit sich, die in der ersten Anstiftung zur Sünde enthalten ist und in der ganzen Geschichte des Menschen auf Erden ständig erneuert wird. … Wir befinden uns hier mitten im Zentrum dessen, was man das »Gegen-Wort«, das heißt die »Gegen-Wahrheit«, nennen könnte. Die Wahrheit des Menschen wird in der Tat verfälscht: wer der Mensch ist und welches die unüberschreitbaren Grenzen seines Seins und seiner Freiheit sind. Diese »Gegen-Wahrheit« ist möglich, weil gleichzeitig die Wahrheit darüber, wer Gott ist, vollständig verfälscht wird. Gott, der Schöpfer, wird im Gewissen des Geschöpfes verdächtigt, ja sogar angeklagt.“
Damit beschreibt Johannes Paul II. auch eine Signatur unserer Zeit. Bisweilen wird sogar bis in den Raum der Kirche hinein die Wahrheit geleugnet. Sie wird auf eine Meinung hin reduziert, die in Diskussionen vielleicht noch berücksichtigt, vor allem aber kritisiert wird. Hellsichtig weist der heilige Papst darauf hin, dass die Wahrheit über Gott in trügerischer und böser Absicht verhüllt wird. Betrieben werde, „Gott als Feind seines eigenen Geschöpfes hinzustellen und vor allem als Feind des Menschen, als Quelle von Gefahr und Bedrohung für den Menschen“: „Auf diese Weise wird von Satan in die Seele des Menschen der Keim des Widerstandes gegen den eingepflanzt, der als Feind des Menschen »von Anbeginn« betrachtet werden soll – und nicht als Vater. Der Mensch wird herausgefordert, der Gegner Gottes zu werden!“
Menschen sähen Gott dann als Begrenzung ihrer Wünsche an, als Gegenmacht, die es zu abwehren und zu bekämpfen gelte. Gott werde nicht als „Fülle des Guten“ gesehen. Der Begriff und die Wirklichkeit der Sünde werden auch heute oft geleugnet. Doch auch wer von der Abwendung von Gott und vom Nächsten nichts mehr wissen will, wendet sich ab. Deutlich bemerkt Johannes Paul II.: „Der Sünde überführen bedeutet, das Böse, das in ihr ist, aufzuzeigen. Das entspricht dem Aufdecken der geheimen Macht des Bösen. Es ist nicht möglich, das Böse der Sünde in seiner ganzen schmerzhaften Wirklichkeit zu erfassen, ohne »die Tiefen Gottes zu ergründen«. Seit dem Anfang zeigt sich das dunkle Geheimnis der Sünde in der Welt vor dem Hintergrund seiner Beziehung zum Schöpfer der menschlichen Freiheit. Es zeigt sich als Willensakt des Menschengeschöpfes gegen den Willen Gottes: gegen den Heilswillen Gottes; ja, sogar als Widerspruch zur Wahrheit, als Folge der Lüge, die bereits endgültig »gerichtet ist«: der Lüge, die die schöpferische und heilbringende göttliche Liebe selbst ständig anklagt und verdächtigt. Der Mensch ist dem »Vater der Lüge« gefolgt, indem er sich dem Vater des Lebens und dem Geist der Wahrheit widersetzt hat. … Die Kirche, von der Offenbarung inspiriert, glaubt und bekennt, daß die Sünde eine Beleidigung Gottes ist. Was entspricht im unergründbaren Innern des Vaters, des Wortes und des Heiligen Geistes dieser »Beleidigung«, dieser Zurückweisung des Geistes, der Liebe und Geschenk ist?“ Heute – mehr als 35 Jahre nach der Publikation der Enzyklika – hören wir selten noch in der Verkündigung, dass die Sünde eine „Beleidigung Gottes“ ist.
Wie ein Kirchenlehrer der Moderne und Postmoderne ermahnt hier der heilige Papst die Gläubigen seiner Zeit und uns heute, die Sünde ernst zu nehmen. In wenigen Tagen werden wir im Triduum Sacrum von Christus hören, der die Sünde der Welt auf sich und hinweggenommen hat: „So verwandelt der Heilige Geist das »der Sünde überführen« gegenüber der Schöpfung, »die der Vergänglichkeit unterworfen ist«, und vor allem in der Tiefe des menschlichen Gewissens in eine Offenbarung darüber, wie die Sünde durch das Opfer des Gotteslammes besiegt wird, des Messias, der »bis in den Tod« der gehorsame Knecht geworden ist und die Erlösung der Welt bewirkt, indem er den Ungehorsam des Menschen wiedergutmacht. Das ist die Weise, wie der Geist der Wahrheit, der Beistand, »der Sünde überführt«.“ Das Kreuzesopfer Christi möge uns neu gegenwärtig und bewusst werden, sodass am Karfreitag, wenn wir das Kreuz verehren, immer mehr uns bewusst wird, was der heilige Johannes Paul II. uns lehrt: „In der Tiefe des Geheimnisses des Kreuzes ist die Liebe am Werk, die den Menschen erneut zur Teilnahme am Leben bringt, das in Gott selbst ist.“
Quelle: CNA Deutsch, 27. März, 2021
Autor: Dr. Thorsten Paprotny