Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 10
Am hohen Osterfest wird uns immer wieder bewusst, dass dies die Stunde der Frauen ist: Das Grab ist leer, der Herr ist von den Toten erstanden – und Maria von Magdala bezeugt dies, so dass sie den Jüngern verkünden kann: „Ich habe den Herrn gesehen.“ In gleicher Weise wissen wir, dass die Gottesmutter ihr „Fiat“ gesprochen hat, als der Engel der Verkündigung ihr erschienen war. Im Herzen von Maria ist über die Erlösung entschieden worden. Der heilige Johannes Paul II. hat sein ganzes Pontifikat mit „Totus tuus“ bezeichnet. Er lehrte uns neu, mit Marias Augen auf Christus zu schauen. Die von ihm am 25. März 1987 veröffentlichte Enzyklika „Redemptoris mater“ ist darum zugleich marianisch und christozentrisch. Der heilige Papst spricht in besonderer Weise von dem Geschenk der Gnade: „In der Sprache der Bibel bedeutet »Gnade« ein besonderes Geschenk, das seine Quelle nach dem Neuen Testament im dreifaltigen Leben Gottes selbst hat, jenes Gottes, der die Liebe ist (vgl. 1 Joh 4, 8). Frucht dieser Liebe ist die »Erwählung«, von der der Epheserbrief spricht. Von Gott her ist diese »Erwählung« sein ewiger Wille, den Menschen durch die Teilhabe an seinem eigenen Leben (vgl. 2 Petr 1, 4) in Christus zu retten: Es ist die Rettung durch Teilhabe am übernatürlichen Leben. Die Wirkung dieses ewigen Geschenkes, dieser Gnade der Erwählung des Menschen durch Gott, ist wie ein Keim der Heiligkeit oder wie eine Quelle, die in der Seele des Menschen aufsprudelt als Geschenk Gottes selbst, der die Erwählten durch die Gnade belebt und heiligt. Auf diese Weise erfüllt sich, das heißt verwirklicht sich jene »Segnung« des Menschen »mit allem Segen seines Geistes«, jenes »seine Söhne werden in Christus«, in dem, der von Ewigkeit her der »geliebte Sohn« des Vaters ist.“
Der Weg des Christen ist die Einübung und Vertiefung, das geistliche Wachstum mit dem Ziel der Heiligkeit, nicht das Streben nach Macht oder ein blinder Leistungseifer. Der gläubige Mensch wächst heran, geht aufrecht durch das Leben und lernt zu knien, demütig zu sein und anzubeten. Wir bezeugen heute alle neu, wie der Ungeist der Verwirrung in die Kirche einzieht, törichte Gestaltungsabsichten um sich greifen und ein dämonisches Machtbewusstsein Kleriker wie Weltchristen antreibt, sich von Gott abzuwenden und ihre eigenen Pläne umzusetzen. Wie sehr könnte heute Maria neu zu einem Vorbild im Glauben werden, zur Fürsprecherin in einer Zeit der geistlichen Dürre und Not. Hellsichtig deutet Johannes Paul II. die Dimensionen der Gnade: „Zugleich aber weist die Fülle der Gnade auf das gesamte übernatürliche Gnadengeschenk hin, das Maria besitzt, weil sie zur Mutter Christi erwählt und bestimmt worden ist. Wenn diese Erwählung grundlegend ist für die Verwirklichung der Heilspläne Gottes gegenüber der Menschheit, wenn die Erwählung in Christus von Ewigkeit her und die Berufung zur Würde der Sohnschaft sich auf alle Menschen beziehen, so ist die Erwählung Marias völlig einzigartig und einmalig. Hieraus folgt dann auch die Einzigartigkeit ihrer Stellung im Geheimnis Christi.“
Es geht um die „Heilspläne Gottes“, nicht um unsere eigenen Absichten. Wenn wir an den Schöpfungsbericht denken, der in der Liturgie der Osternacht verkündet wird, so wird uns auch gewahr, dass Adam und Eva sich von der Schlange verführen ließen, betört von weltlichen Gelüsten einem widergöttlichen Begehren erlagen – ein Entscheid wider Gottes Weisungen. Die Freiheit des Menschen, sich bewusst von Gott abzuwenden, könnte uns heute noch schaudern lassen. Doch fürchten wir die Sünde? Es ist nur ein ganz kleiner Schritt. Die Macht des Bösen besteht fort. Die Versuchungen sind groß in einer Welt, die auf die Autonomie und Emanzipation des Menschen sich ausgerichtet hat – und, wieder einmal, die Kirche ganz neu erfinden will.
Auf dem Weg Marias finden wir zu Gott. Sie zeigt uns ihren Sohn: „Im Heilsplan der Heiligsten Dreifaltigkeit stellt das Geheimnis der Menschwerdung die überreiche Erfüllung der Verheißung dar, die Gott den Menschen nach der Ursünde gegeben hatte, nach jener ersten Sünde, deren Folgen auf der gesamten Geschichte des Menschen auf Erden lasten (vgl. Gen 3, 15). So kommt ein Sohn zur Welt, der »Nachwuchs« einer Frau, der das Übel der Sünde an der Wurzel selbst besiegen wird: »Er trifft (die Schlange) am Kopf«. Wie aus den Worten des Protoevangeliums hervorgeht, wird der Sohn der Frau erst nach einem harten Kampf siegen, der die ganze Geschichte des Menschen durchziehen muß. Die »Feindschaft«, zu Anfang angekündigt, wird im Buch der Offenbarung, dem Buch der letzten Dinge der Kirche und der Welt, bestätigt: Hier begegnet uns erneut das Zeichen einer »Frau«, diesmal »mit der Sonne bekleidet« (Offb 12, 1). Maria, Mutter des menschgewordenen ewigen Wortes, wird in die Mitte jener Feindschaft gestellt, jenes Kampfes, der die Geschichte der Menschheit auf Erden und auch die Heilsgeschichte selbst begleitet. An diesem Ort trägt sie, die zu den »Demütigen und Armen des Herrn« gehört, wie kein anderer unter den Menschen jene »herrliche Gnade« in sich, die der Vater »uns in seinem geliebten Sohn geschenkt hat«, und diese Gnade bestimmt die außergewöhnliche Größe und Schönheit ihres ganzen menschlichen Seins. Maria bleibt so vor Gott und auch vor der ganzen Menschheit gleichsam das bleibende und unzerstörbare Zeichen jener Erwählung durch Gott, von der der Paulusbrief spricht: »In ihm (Christus) hat er uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, … dazu bestimmt, seine Söhne zu werden« (Eph 1, 4. 5). Diese Erwählung ist stärker als jede Erfahrung des Bösen und der Sünde, all jener »Feindschaft«, von der die Geschichte des Menschen geprägt ist. In dieser Geschichte bleibt Maria ein Zeichen sicherer Hoffnung.“ So empfiehlt uns der heilige Papst, nicht zeitgeistlichen Erscheinungen zu folgen, sondern uns der Gottesmutter Maria, dem „Zeichen sicherer Hoffnung“, ganz anzuvertrauen, ihrem Schutz und ihrer Fürsprache.
Quelle: CNA Deutsch, 3. April, 2021
Autor: Dr. Thorsten Paprotny