Dr. Thorsten Paprotny

Die Zeit der Gottesfinsternis

Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 25 Illustration Foto: Tim Marshall / Unsplash (CC0) In der großen Moralenzyklika „Evangelium vitae“ erläutert Johannes Paul II. den engen Zusammenhang, der zwischen der „Entstellung des Subjektivitätsbegriffs“ und der Glorifizierung der Autonomie des Menschen einhergeht. Manches Bekenntnis zu den Menschenrechten, gerade zur Freiheit der Person, basiert darauf, dass die Würde des Menschen verbunden wird mit dessen Fähigkeit zur Kommunikation: „Es ist klar, daß unter solchen Voraussetzungen in der Welt kein Raum für den ist, der, wie das ungeborene Kind oder der Sterbende, ein von seiner physischen Konstitution her schwaches Wesen ist, auf Gedeih und Verderb anderen Menschen ausgeliefert und radikal von ihnen abhängig ist und mit dem Kommunikation nur durch die stumme Sprache einer tiefen Symbiose liebender Zuneigung möglich ist. Damit wird die Stärke zum Entscheidungs- und Handlungskriterium in den zwischenmenschlichen Beziehungen und im sozialen Zusammenleben. Doch das ist das genaue Gegenteil von dem, was den Rechtsstaat historisch als Gemeinschaft bestätigt hat, in der an die Stelle des »Rechts der Stärke« die »Stärke des Rechts« tritt.“ Doch die Würde des Menschen reicht von der Empfängnis bis in die Sterbestunde hinein – und sie ist nicht abhängig von irgendwelchen Bedingungen, nicht von einem Gebrauch von Verstand und Vernunft, nicht von der Fähigkeit zur Kommunikation. Die Menschenrechte würden in der Praxis oft tragisch verweigert. Mit klaren Worten bekennt sich der heilige Papst zum Lebensschutz: „Wenn es wahr ist, daß sich die Auslöschung des ungeborenen oder zu Ende gehenden Lebens mitunter auch den Anstrich eines mißverstandenen Gefühls von Altruismus und menschlichen Erbarmens gibt, so kann man nicht bestreiten, daß eine solche Kultur des Todes in ihrer Gesamtheit eine ganz individualistische Freiheitsauffassung enthüllt, die schließlich die Freiheit der »Stärkeren« gegen die zum Unterliegen bestimmten Schwachen ist.“ Jeder Mensch sei zum Hüter seiner Schwestern und Brüder bestellt, natürlich auch der Ungeborenen. Eine Freiheit, die subjektivistisch absolut gesetzt werde – als ob das ungeborene Kind etwa noch nicht Mensch wäre, sondern noch erst Mensch werden würde –, stehe im Widerspruch zur Berufung und zur Menschenwürde, denn eine solche „Freiheit verleugnet sich selber, zerstört sich selber und macht sich zur Vernichtung des anderen bereit, wenn sie ihre grundlegende Verbindung mit der Wahrheit nicht anerkennt und nicht mehr respektiert“: „Jedesmal, wenn die Freiheit sich von jeder Tradition und Autorität befreien will und sich den wesentlichen Klarheiten einer objektiven und gemeinsamen Wahrheit als dem Fundament für das persönliche und soziale Leben verschließt, hört der Mensch auf, als einzigen und unanfechtbaren Anhaltspunkt für seine Entscheidungen nicht mehr die Wahrheit über Gut und Böse anzunehmen, sondern nur noch seine subjektive und wandelbare Meinung oder gar sein egoistisches Interesse und seine Laune.“ Wenn die „Förderung des eigenen Ich“ obsiege, die Verehrung der „absoluten Autonomie“, so sei der Weg zur „Verneinung des anderen“ offen: „So schwindet jeder Bezug zu gemeinsamen Werten und zu einer für alle geltenden absoluten Wahrheit: das gesellschaftliche Leben läuft Gefahr, in einen vollkommenen Relativismus abzudriften. Da läßt sich alles vereinbaren, über alles verhandeln: auch über das erste Grundrecht, das Recht auf Leben.“ In dem „unangefochten herrschenden Relativismus“ höre das Recht auf, Recht zu sein, „weil es sich nicht mehr fest auf die unantastbare Würde der Person gründet, sondern dem Willen des Stärkeren unterworfen wird“. Diese geschehe auf dem „Boden der Legalität“, so Johannes Paul II., zumindest wenn über die Gesetze zur Freigabe der Abtreibung und der Euthanasie nach den sogenannten demokratischen Regeln abgestimmt wird“: „Der Staat ist nicht mehr das »gemeinsame Haus«, in dem alle nach den Prinzipien wesentlicher Gleichheit leben können, sondern er verwandelt sich in einen tyrannischen Staat, der sich anmaßt, im Namen einer allgemeinen Nützlichkeit — die in Wirklichkeit nichts anderes als das Interesse einiger weniger ist — über das Leben der Schwächsten und Schutzlosesten, vom ungeborenen Kind bis zum alten Menschen, verfügen zu können.“ Der Papst stellt klar: „Das Recht auf Abtreibung, Kindestötung und Euthanasie zu fordern und es gesetzlich anzuerkennen heißt der menschlichen Freiheit eine perverse, abscheuliche Bedeutung zuzuschreiben: nämlich die einer absoluten Macht über die anderen und gegen die anderen.“ Die „perverse Freiheitsstellung“ einer solchen Autonomie lehnt Johannes Paul II. leidenschaftlich ab. Möglich seien diese Zustände geworden durch die „Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen“ im Säkularismus: „Wenn man den Sinn für Gott verliert, verliert man bald auch den Sinn für den Menschen, für seine Würde und für sein Leben; die systematische Verletzung des Moralgesetzes, besonders was die Achtung vor dem menschlichen Leben und seiner Würde betrifft, erzeugt ihrerseits eine Art fortschreitender Verdunkelung der Fähigkeit, die lebenspendende und rettende Gegenwart Gottes wahrzunehmen.“ Wenn der Sinn für Gott schwinde, dann sei auch der Sinn für den Menschen bedroht und verdorben – wie das Zweite Vatikanische Konzil gelehrt habe: „Wenn der Mensch wirklich lebt, »als ob es Gott nicht gäbe«, so kommt ihm nicht nur der Sinn für das Geheimnis Gottes, sondern auch für das Geheimnis der Welt und seines eigenen Seins abhanden. Die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen führt unvermeidlich zum praktischen Materialismus, in dem der Individualismus, der Utilitarismus und der Hedonismus gedeihen. Auch hier offenbart sich die ewige Gültigkeit dessen, was der Apostel schreibt: »Und da sie sich weigerten, Gott anzuerkennen, lieferte Gott sie einem verworfenen Denken aus, so daß sie tun, was sich nicht gehört« (Röm 1, 28). Auf diese Weise werden die Werte des Seins durch jene des Habens ersetzt. Das einzige Ziel, auf das es ankommt, ist die Erlangung des eigenen materiellen Wohlergehens. Die sogenannte »Lebensqualität« wird vorwiegend oder ausschließlich als wirtschaftliche Leistung, hemmungsloser Konsumismus, Schönheit und Genuß des physischen Lebens ausgelegt, wobei die tiefer reichenden — beziehungsmäßigen, geistigen und religiösen — Dimensionen des Daseins in Vergessenheit geraten.“ Johannes Paul II. stellt eine solche Gottesfinsternis fest. Er beschreibt die Auswirkungen dieser konsequenten Abwendung von Gott, die – bis heute – weit in den Raum der Kirche und Theologie hineinreicht. Die Verwirrung nehme zu, insbesondere in Bezug auf das „fundamentale Recht auf Leben“, bisweilen erfolge dies unter Berufung auf das Gewissen: „Wenn das Gewissen, dieses leuchtende Auge der Seele (vgl. Mt 6, 22-23),

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Das Evangelium vom Leben

Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 24 Illustration Foto: Greg Rakozy / Unsplash (CC0) Am 25. März 1995 legte der hl. Johannes Paul II. die Enzyklika „Evangelium vitae“ vor – ein Bekenntnis, ja ein Manifest des Lebensschutzes. Der Papst erinnert daran, dass die Würde des Menschen unantastbar ist – vom Augenblick der Empfängnis bis in die Sterbestunde hinein. Ebenso verweist er auf die Unterscheidung von Gut und Böse. Selbstverständlich aus katholischer Sicht ist das scharfe Urteil über die Abtreibung, ebenso selbstverständlich ist der kategorische Ausschluss der Beihilfe zum assistierten Suizid, also der Sterbehilfe. Ist das heute – selbst unter Katholiken – noch selbstverständlich? Treten wir, ob gelegen oder ungelegen, für den Schutz des Lebens ein? Johannes Paul II. schreibt: „Das Evangelium vom Leben liegt der Botschaft Jesu am Herzen. Von der Kirche jeden Tag liebevoll aufgenommen soll es mit beherzter Treue als Frohe Botschaft allen Menschen jeden Zeitalters und jeder Kultur verkündet werden.“ Eine wahrhaft „messianische Freude“ verbinde sich mit der „Erfüllung der Freude über jedes Kind, das geboren wird“. Worin liegt die Berufung des Menschen? Johannes Paul II. spricht nicht von weltlicher Karriere, nicht von der Gefolgschaft gegenüber einer Agenda des Kommunismus, Kapitalismus oder Konsumismus. Ebenso wenig verweist er auf die existenzialistische Selbstverwirklichung von Plänen, Projekten und Wünschen: „Der Mensch ist zu einer Lebensfülle berufen, die weit über die Dimensionen seiner irdischen Existenz hinausgeht, da sie in der Teilhabe am Leben Gottes selber besteht. Die Erhabenheit dieser übernatürlichen Berufung enthüllt die Größe und Kostbarkeit des menschlichen Lebens auch in seinem zeitlich-irdischen Stadium. Denn das Leben in der Zeit ist Grundvoraussetzung, Einstiegsmoment und integrierender Bestandteil des gesamten einheitlichen Lebensprozesses des menschlichen Seins.“ Das Leben, das uns geschenkt ist, weist über die Wirklichkeit dieser Welt hinaus. Mann und Frau sind gerufen, das Leben, das ihnen geschenkt ist, zu lieben, im Bewusstsein darum, dass die Vollendung nicht auf Erden besteht, bestehen kann:  „In Wahrheit ist es nicht »letzte«, sondern »vorletzte« Wirklichkeit; es ist also heilige Wirklichkeit, die uns anvertraut wird, damit wir sie mit Verantwortungsgefühl hüten und in der Liebe und Selbsthingabe an Gott sowie an die Schwestern und Brüder zur Vollendung bringen.“ Johannes Paul II. spricht vom Naturgesetz, das dem Menschen „ins Herz geschrieben“ sei, so dass er den „heiligen Wert des menschlichen Lebens vom ersten Augenblick bis zu seinem Ende“ erkennen und bejahen könne. Ist uns diese Heiligkeit bewusst? Wer Sterbende begleitet in ihrem oft so langen und schmerzvollen Abschied von der Welt, mag sich vielleicht an liebe Angehörige erinnern, die nach schwerem Leid doch von einem großen Frieden in den letzten Augenblicken ihres Lebens gezeichnet waren. Die Momente, in denen wir nichts mehr tun können, als an der Seite der Sterbenden zu sein, sind kostbare Geschenke – wir spüren und erfahren die Heiligkeit des Lebens aus nächster Nähe. Wer Babys sieht oder das Glück hatte, die Geburtsstunde zu erleben, erinnert sich vielleicht an die eigenen Tränen und die Dankbarkeit für diesen Moment, an dem er teilhaben durfte. Mütter berichten immer wieder von der Schönheit der Schwangerschaft und von dem Glücksmoment, als sie das erste Mal die zarte Stimme ihres Nachwuchses hörten. Dieser „heilige Wert des menschlichen Lebens“ ist gegenwärtig, sichtbar und spürbar. Wir sind berufen, die Heiligkeit des Lebens zu achten, zu ehren und zu schützen. Johannes Paul II. spricht davon, dass das Recht jedes Menschen auf Leben „in höchstem Maße geachtet“ werden müsse: „Auf der Anerkennung dieses Rechtes beruht das menschliche Zusammenleben und das politische Gemeinwesen.“ Schmerzhaft bewusst wird Christen aller Konfessionen, die sich für den Lebensschutz einsetzen, dass eine neue Aufgeschlossenheit für Abtreibung und assistierten Suizid, also Sterbehilfe, zu bestehen scheint. Der heilige Papst widerspricht all dem und verweist energisch darauf, dass der Lebensschutz untrennbar mit der Frohen Botschaft verknüpft ist: „Das Evangelium von der Liebe Gottes zum Menschen, das Evangelium von der Würde der Person und das Evangelium vom Leben sind ein einziges, unteilbares Evangelium.“ Er macht auf ein „beunruhigendes Panorama“ aufmerksam – „mit den neuen, vom wissenschaftlich-technologischen Fortschritt eröffneten Perspektiven entstehen neue Formen von Anschlägen auf die Würde des Menschen, während sich eine neue kulturelle Situation abzeichnet und verfestigt, die den Verbrechen gegen das Leben einen bisher unbekannten und womöglich noch widerwärtigeren Aspekt verleiht und neue ernste Sorgen auslöst: breite Schichten der öffentlichen Meinung rechtfertigen manche Verbrechen gegen das Leben im Namen der Rechte der individuellen Freiheit und beanspruchen unter diesem Vorwand nicht nur Straffreiheit für derartige Verbrechen, sondern sogar die Genehmigung des Staates, sie in absoluter Freiheit und unter kostenloser Beteiligung des staatlichen Gesundheitswesens durchzuführen“. Was einst als „verbrecherisch“ angesehen worden sei, werde nunmehr „gesellschaftlich als achtbar betrachtet“. Johannes Paul II. diagnostiziert einen „schweren moralischen Verfall“: „Das Ergebnis, zu dem man gelangt, ist dramatisch: so schwerwiegend und beunruhigend das Phänomen der Beseitigung so vieler menschlicher Leben vor der Geburt oder auf dem Weg zum Tod auch sein mag, so ist die Tatsache nicht weniger schwerwiegend und beunruhigend, daß selbst das Gewissen, als wäre es von so weitreichenden Konditionierungen verfinstert, immer träger darin wird, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse wahrzunehmen im Hinblick auf den fundamentalen Wert des menschlichen Lebens.“ Die Kirche, damit auch Sie und ich, sind berufen, für das Leben jedes Menschen einzustehen und den Versuchungen wie Verlockungen des tückischen, diabolischen Zeitgeistes zu widerstehen. Die Würde des Menschen ist unantastbar, von der Empfängnis bis in die Sterbestunde hinein. Quelle: CNA Deutsch,  10. July, 2021  Autor: Dr. Thorsten Paprotny

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Die Verantwortung der Bischöfe und Moraltheologen

Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 23 Christus der Erlöser Foto: Robert Nyman / Unsplash (CC0) In „Veritatis splendor“ weist Johannes Paul II. darauf hin, dass die „ganze Kirche“ – somit auch Sie und ich – dazu berufen sind, an der Evangelisierung und am Zeugnis des Glaubenslebens teilzuhaben. Die Kirche müsse ihr Glaubensleben neu beleben, freilich nicht mithilfe zeitgeistlicher Irrlichter, sondern unter „Führung des Heiligen Geistes“. Die Theologen sind dazu bestellt, nicht ihre Privatideen zu verbreiten, sondern „in Gemeinschaft mit dem Lehramt ein immer tieferes Verständnis des Wortes Gottes, wie es in der inspirierten und von der lebendigen Tradition der Kirche getragenen Schrift enthalten ist, zu gewinnen“. Oft scheint es aber – vor 30 Jahren wie heute – so zu sein, als hätte sich die Theologie, die als katholisch firmiert, sich von Schrift, Tradition und vom Lehramt der Kirche gelöst. Eine Theologie, die sich gegen die Kirche stellt, weist der heilige Papst scharf ab: „Was wir über die Theologie im allgemeinen gesagt haben, kann und muß erneut für die Moraltheologie vorgetragen werden, insofern sie begriffen wird in ihrer Eigentümlichkeit als wissenschaftliche Reflexion über das Evangelium als Geschenk und Gebot neuen Lebens, über das Leben, das »von der Liebe geleitet, sich an die Wahrheit hält« (vgl. Eph 4, 15), über das heiligmäßige Leben der Kirche, in welchem die Wahrheit des zu seiner Vollendung gebrachten Guten glänzt. … Durch die Verkündigung der Gebote Gottes und der Liebe Christi lehrt das Lehramt der Kirche die Gläubigen auch konkrete Einzelgebote und verlangt von ihnen, sie gewissenhaft als sittlich verpflichtend zu betrachten. Außerdem übt das Lehramt ein wichtiges Wächteramt aus, indem es die Gläubigen vor möglichen, auch nur implizit vorhandenen Irrtümern warnt, wenn ihr Gewissen nicht dahin gelangt, die Richtigkeit und Wahrheit der vom Lehramt der Kirche gelehrten sittlichen Regeln anzuerkennen.“ Er mahnt die zuständigen Bischöfe, ihren Pflichten nachzukommen. Jeder Gläubige kann und darf von Theologen, die im Namen und im Auftrag der Kirche lehren, eine kirchliche Bindung erwarten: „Den Moraltheologen fällt die Aufgabe zu, die Lehre der Kirche darzulegen und bei der Ausübung ihres Amtes das Beispiel einer loyalen, inneren und äußeren Zustimmung zur Lehre des Lehramtes sowohl auf dem Gebiet des Dogmas wie auf dem der Moral zu geben. Den Moraltheologen wird es, wenn sie ihre Kräfte zur Zusammenarbeit mit dem hierarchischen Lehramt vereinen, ein Anliegen sein, die biblischen Grundlagen, die ethischen Inhalte und die anthropologischen Begründungen, auf denen die von der Kirche vorgelegte Morallehre und Sicht des Menschen aufruhen, immer klarer herauszustellen.“ Inmitten umgreifender „Gefahren des Relativismus“ separieren sich aber viele Moraltheologen von der Lehre der Kirche. Es ist die Aufgabe der Theologen und Bischöfe, als Verteidiger des Glaubens und der Moral ihre Stimme zu erheben. Es ist zudem auch jedem einzelnen Gläubigen, ob Theologe oder nicht, aufgetragen, treu zur Kirche des Herrn zu stehen. Johannes Paul II. schreibt: „Die Tatsache, daß manche Gläubige handeln, ohne die Lehren des Lehramtes zu befolgen, oder ein Verhalten zu Unrecht als sittlich richtig ansehen, das von ihren Hirten als dem Gesetz Gottes widersprechend erklärt worden ist, kann kein stichhaltiges Argument darstellen, um die Wahrheit der von der Kirche gelehrten sittlichen Normen zurückzuweisen.“ Zugleich erinnert der Papst die Bischöfe daran, die „Verantwortung gegenüber dem Glauben und dem Glaubensleben des Volkes Gottes“ wahrzunehmen: „Es ist unsere gemeinsame Pflicht und zuvor noch unsere gemeinsame Gnade, als Hirten und Bischöfe der Kirche die Gläubigen das zu lehren, was sie auf den Weg des Herrn führten.“ Dies sei auch ein Gebot der „pastoralen Liebe“: „Wir haben als Bischöfe die Pflicht, darüber zu wachen, daß das Wort Gottes zuverlässig gelehrt wird. Meine Mitbrüder im Bischofsamt, es gehört zu unserem Hirtenamt, über die getreue Weitergabe dieser Morallehre zu wachen und die passenden Maßnahmen zu ergreifen, damit die Gläubigen vor jeder Lehre und Theorie, die ihr widersprechen, geschützt werden. In dieser Aufgabe werden wir alle von den Theologen unterstützt; die theologischen Meinungen bilden jedoch weder die Regel noch die Norm für unsere Lehre. Ihre Autorität beruht, mit dem Beistand des Heiligen Geistes und in der Gemeinschaft cum Petro et sub Petro, auf unserer Treue zu dem von den Aposteln empfangenen katholischen Glauben. Als Bischöfe haben wir die schwerwiegende Verpflichtung, persönlich darüber zu wachen, daß in unseren Diözesen die »gesunde Lehre« (1 Tim 1, 10) des Glaubens und der Moral gelehrt wird.“ In der großen Enzyklika „Veritatis splendor“ hat der heilige Johannes Paul II. 1993 Antworten gegeben, die zu seiner Zeit nötig waren und bis heute hin fortwirken sowie erwogen und bedacht sein mögen. Wir sind umgeben von den Versuchungen des Relativismus, von verstörenden Signaturen der Zeit, umflutet von einer Fülle von kuriosen Privatmeinungen und säkularen Fantasien, die in den Raum der Kirche eingedrungen sind. Oft scheint es so zu sein, als hätten sich die einfach gläubigen Christen den klaren Blick für Glauben und Moral bewahrt. Manche fragen sich, ob die Hirten der Kirche noch führen – oder einige von ihnen selbst geführt werden müssten. Enzykliken wie diese schenken uns Wegweisung und Hoffnung auch in Zeiten der Anfechtung, der Irritation und der innerkirchlichen Nebelbildungen. Quelle: CNA Deutsch,  3. July, 2021  Autor: Dr. Thorsten Paprotny

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Moral und Neuevangelisierung

Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 22 Kreuz (Illustration) Foto: Diana Vargas / Unsplash (CC0 Auf dem kontrovers diskutierten „Synodale Weg“ bleiben die Lehre der Kirche ebenso wie der dringende Wunsch von Papst Franziskus nach Evangelisierung außen vor. Damit lassen sich die neuesten Entwicklungen hierzulande als bewusste Abkehr von der Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils begreifen, das bekanntlich nicht eine Anpassung der Moraltheologie an den launischen Zeitgeist, sondern eine neue Sprachfähigkeit des Glaubens gefordert und die Verkündung des Evangeliums gewünscht hat. In „Veritatis splendor“ zeigt der heilige Johannes Paul II. die enge wie notwendige Verknüpfung von Evangelisierung und Morallehre auf. Er diagnostiziert zunächst eine fortschreitende „Entchristlichung“, die „nicht nur den Verlust des Glaubens oder zumindest seine Bedeutungslosigkeit für das Leben nach sich“ ziehe, „sondern notgedrungen auch einen Verfall oder eine Trübung des sittlichen Empfindens“. Der Sinn für die „Ursprünglichkeit der Moral des Evangeliums“ sei verloren gegangen, die „Verdunkelung fundamentaler sittlicher Grundätze und Werte“ schreite voran: „Heute so weit verbreitete subjektivistische, utilitaristische und relativistische Tendenzen treten nicht einfach als pragmatische Positionen mit Gewohnheitscharakter auf, sondern unter theoretischem Gesichtspunkt als feste Konzeptionen, die ihre volle kulturelle und gesellschaftliche Legitimität beanspruchen.“ Darum fordert der Papst leidenschaftlich die Verknüpfung von „»Neuevangelisierung«“ mit der „Verkündigung und dem Anbieten einer Moral“: „Wie im Falle der Glaubenswahrheiten, ja in noch höherem Maße, bekundet eine Neuevangelisierung, die Grundlagen und Inhalte der christlichen Moral darlegt, ihre Authentizität und verströmt gleichzeitig ihre ganze missionarische Kraft, wenn sie sich durch das Geschenk nicht nur des verkündeten, sondern auch des gelebten Wortes vollzieht. Insbesondere ist es das Leben in Heiligkeit, das in so vielen demütigen und oft vor den Blicken der Menschen verborgenen Gliedern des Volkes Gottes erstrahlt, was den schlichtesten und faszinierendsten Weg darstellt, auf dem man unmittelbar die Schönheit der Wahrheit, die befreiende Kraft der Liebe Gottes, den Wert der unbedingten Treue, selbst unter schwierigsten Umständen, angesichts aller Forderungen des Gesetzes des Herrn wahrzunehmen vermag.“ Johannes Paul II. empfiehlt das Vorbild der Heiligen. Doch heute werde die „Reflexion über das sittliche Leben“ vernachlässigt, insbesondere in der Theologie – und in unserer Zeit, fast 30 Jahre nach der Publikation der Enzyklika, lässt sich mit Bedauern und Schmerz nur bekunden, dass weite Teile der Moraltheologie sich noch weiter ins Unbestimmte hineinbegeben haben. Das Glaubensleben der Kirche, so fordert der Papst, müsse neu erweckt werden: „Für die Identitätsbestimmung der Theologie und folglich für die Verwirklichung ihrer eigentlichen Funktion ist es äußerst wichtig, ihren inneren und lebendigen Zusammenhang mit der Kirche, ihrem Geheimnis, ihrem Leben und ihrer Sendung anzuerkennen: »Die Theologie ist kirchliche Wissenschaft, weil sie in der Kirche wächst und über die Kirche handelt… Sie steht im Dienst der Kirche und muß sich daher dynamisch einbezogen fühlen in die Sendung der Kirche, besonders in ihre prophetische Funktion«.“ Die Theologie ist kirchlich geprägt, diese Bindung ist nicht eine Option, sondern ein verpflichtender Auftrag. Die römisch-katholische Theologie hat nicht die Aufgabe, die Lehre der Kirche – wie auch immer – weiterzudenken oder fortzuentwickeln oder sich von ihr lau zu distanzieren, sondern diese Lehre wissenschaftlich zu vertiefen und zu vermitteln. Johannes Paul II. stellt unmissverständlich klar: „Nicht nur im Bereich des Glaubens, sondern auch und untrennbar davon im Bereich der Moral greift das Lehramt der Kirche ein, dessen Aufgabe es ist, »durch das Gewissen der Gläubigen bindende Urteile jene Handlungen zu bezeichnen, die in sich selber mit den Forderungen des Glaubens übereinstimmen und seine Anwendung im Leben fördern, aber auch jene Handlungen, die aufgrund ihres inneren Schlechtseins mit diesen Forderungen unvereinbar sind«. Durch die Verkündigung der Gebote Gottes und der Liebe Christi lehrt das Lehramt der Kirche die Gläubigen auch konkrete Einzelgebote und verlangt von ihnen, sie gewissenhaft als sittlich verpflichtend zu betrachten. Außerdem übt das Lehramt ein wichtiges Wächteramt aus, indem es die Gläubigen vor möglichen, auch nur implizit vorhandenen Irrtümern warnt, wenn ihr Gewissen nicht dahin gelangt, die Richtigkeit und Wahrheit der vom Lehramt der Kirche gelehrten sittlichen Regeln anzuerkennen.“ Die Moraltheologen seien verpflichtet, ihr Amt loyal, im Geist einer „inneren und äußeren Zustimmung zur Lehre des Lehramtes sowohl auf dem Gebiet des Dogmas wie auf dem der Moral“ auszuüben. Energisch weist Johannes Paul II. die zeitgenössischen Moden ab, die manche dazu verleiten, sich auf ein „nur im Rahmen der sogenannten Humanwissenschaften erarbeitetes Wissen“ zu beschränken: „Tatsächlich muß die Zuständigkeit der Humanwissenschaften in der Moraltheologie stets an der ursprünglichen Frage gemessen werden: Was ist gut bzw. böse? Was muß ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ Die Moraltheologie müsse „in Treue zum übernatürlichen Sinn des Glaubens vor allem die geistliche Dimension des menschlichen Herzens und seine Berufung zur göttlichen Liebe“ stehen: „Es ist das Evangelium, das die ganze Wahrheit über den Menschen und über den sittlichen Weg enthüllt und so die Sünder erleuchtet und ermahnt und ihnen von der Barmherzigkeit Gottes kündet, der unablässig wirkt, um sie zu bewahren sowohl vor der Verzweiflung darüber, daß sie das göttliche Gesetz nicht erkennen und befolgen können, als auch vor der falschen Meinung, sich ohne Verdienst retten zu können. Es erinnert sie darüber hinaus an die Freude der Vergebung, die allein die Kraft dazu verleiht, im sittlichen Gesetz eine befreiende Wahrheit, eine Gnade zur Hoffnung, einen Lebensweg zu erkennen.“ Der heilige Papst warnt vor einer Relativierung der Sittenlehre und einer Gefolgschaft gegenüber säkularen Meinungen. Die Morallehre sei nicht von „Entscheidungsverfahren demokratischer Art bestimmt“. Sehr genau beobachtet Johannes Paul II. den „kalkulierten Protest“ und die öffentliche Polemik gegen die Lehre der Kirche und betont, dass „im Widerstand“ gegen diese „weder eine legitime Ausdrucksform der christlichen Freiheit noch der Vielfalt der Gaben des Geistes zu erkennen“. Darum erklärt er: „In diesem Fall haben die Hirten die Pflicht, ihrem apostolischen Auftrag gemäß zu handeln und zu verlangen, daß das Recht der Gläubigen, die katholische Lehre rein und unverkürzt zu empfangen, immer geachtet wird.“ Wie sehr wünschen sich dies einfach gläubige Katholiken auch heutzutage in Deutschland von ihren Bischöfen. Quelle: CNA Deutsch,  26. Juni, 2021  Autor: Dr. Thorsten Paprotny

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Über das Naturrecht

Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 20 Illustration Foto: Naveen Chandra / Unsplash (CC0) Die Relativierung und Leugnung des Naturrechts reichen heute bis weit in den Raum von Theologie und Kirche hinein. Doch auch der hl. Johannes Paul II. spricht in der Enzyklika „Veritatis splendor“ am 6. August 1993 bereits von der „außergewöhnlichen Wucht“, mit der Debatten über Natur und Freiheit zurückgekehrt seien. Es würden sich „gewisse Formen von Liberalismus“ ausbreiten. Abgewiesen werden die Auffassungen von Moraltheologen, die die „kreatürliche Dimension der Natur vergessen und in ihrer Integrität verkennen“: „Für einige ist die Natur nur noch zum Rohmaterial für das menschliche Handeln und Können verkürzt: Sie müßte von der Freiheit von Grund auf umgeformt, ja überwunden werden, da sie Begrenzung und Verneinung der Freiheit darstellte. Für andere entstünden im maßlosen Steigern der Macht des Menschen bzw. der Ausweitung seiner Freiheit die ökonomischen, gesellschaftlichen, kulturellen und auch sittlichen Werte: Natur würde all das bedeuten, was im Menschen und in der Welt außerhalb der Freiheit angesiedelt ist. Diese Natur enthielte an erster Stelle den menschlichen Leib, seine Verfassung und seine Triebkräfte: Im Gegensatz zu dieser physischen Gegebenheit stünde alles »Konstruierte«, also die »Kultur« als Werk und Produkt der Freiheit. Die so verstandene menschliche Natur könnte reduziert und wie ein dauernd zur Verfügung stehendes biologisches oder gesellschaftliches Material behandelt werden. Das bedeutet letzten Endes, die Freiheit durch sich selbst zu bestimmen und sie zu einer schöpferischen Instanz ihrer selbst und ihrer Werte zu machen.“ Der Mensch wäre so nicht nur Gott, sondern auch seiner Natur entfremdet. Heute werden ideologische Formen sichtbar, etwa in der sogenannten „Sexualpädagogik der Vielfalt“ – von Christian Spaemann kritisiert –, die als frühkindliche Aufklärung präsentiert wird. Die von Johannes Paul II. abgewiesenen moraltheologischen Auffassungen kulminieren in dem Punkt, dass der Mensch nur noch als sein „eigenes Daseinsprojekt“ verstanden werde: „Der Mensch wäre nichts weiter als seine Freiheit!“ Dem kirchlichen Lehramt werde eine „»biologistische oder naturalistische Beweisführung«“ zum Vorwurf gemacht, im Bereich von Sexualethik und Ehemoral. Der Papst schreibt: „Aufgrund einer naturalistischen Auffassung des Sexualaktes wären Empfängnisverhütung, direkte Sterilisierung, Autoerotik, voreheliche Beziehungen, homosexuelle Beziehungen sowie künstliche Befruchtung als sittlich unzulässig verurteilt worden. Doch nach Meinung dieser Theologen berücksichtigt eine moralisch negative Bewertung solcher Handlungsweisen weder den Menschen als vernünftiges und freies Wesen noch die kulturelle Bedingtheit jeder sittlichen Norm auf angemessene Weise. Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen könne nicht nur, sondern müsse geradezu frei den Sinn seines Verhaltens selbst bestimmen.“ Wir sehen heute besonders in Deutschland, dass diese vor fast dreißig Jahren von Johannes Paul II. kritisierten Strömungen und Meinungen wiederkehren und Sympathisanten in Kirche und Theologie finden. Der Papst legte seinerzeit dar, dass von Moraltheologen die Vorgaben des Naturrechts abgeschwächt und abgetan würden, als handelte es sich um eine beliebige Ansicht. Der Glaube an Gott scheint abgelöst zu sein von dem Glauben an die absolute Freiheit des Menschen: „Eine Freiheit, die den Anspruch auf Absolutheit erhebt, behandelt schließlich den menschlichen Leib wie Rohmaterial, bar jeglichen Sinnes und moralischen Wertes, solange die Freiheit es nicht in ihr Projekt eingebracht hat. Die menschliche Natur und der Leib erscheinen folglich als für die Wahlakte der Freiheit materiell notwendige, aber der Person, dem menschlichen Subjekt und der menschlichen Handlung äußerliche Voraussetzungen oder Bedingtheiten. … Diese moralische Theorie entspricht nicht der Wahrheit über den Menschen und seiner Freiheit. Sie widerspricht den Lehren der Kirche über die Einheit des menschlichen Seins, dessen vernunftbegabte Seele per se et essentialiter Form des Leibes ist. … Die menschliche Person ist, einschließlich des Leibes, ganz sich selbst überantwortet und gerade in der Einheit von Seele und Leib ist sie das Subjekt ihrer sittlichen Akte. Durch das Licht der Vernunft und die Unterstützung der Tugend entdeckt die menschliche Person in ihrem Leib die vorwegnehmenden Zeichen, den Ausdruck und das Versprechen der Selbsthingabe in Übereinstimmung mit dem weisen Plan des Schöpfers.“ Wer den Menschen auf ein „Projekt der eigenen Freiheit“ verkürzt, verkennt und ignoriert die Lehre der Kirche, steht im Gegensatz zu Schrift und Tradition. So erklärt Johannes Paul II.: „Wenn die Kirche Manipulationen der Leiblichkeit, die deren menschliche Bedeutung verfälschen, zurückweist, dient sie dem Menschen und zeigt ihm den Weg der wahren Liebe, auf dem allein er den wahren Gott zu finden vermag.“ Das Naturgesetz bringe die „Würde der menschlichen Person“ zum Ausdruck. Die Natur des Menschen sei das „Maß der Kultur“ und bilde die Voraussetzung dafür, dass der Mensch nicht zum „Gefangenen irgendeiner seiner Kulturen“ werde. Aber man könnte fragen: Gilt nicht die antike Welt heute als verehrungswürdiger Höhepunkt der Kultur? Erinnert werden darf in diesem Zusammenhang auch daran, dass die Kindstötung im Römischen Reich gestattet war und dass in der hellenischen Welt berühmte Philosophen wie Sokrates die Knabenliebe praktiziert haben. Johannes Paul II. erinnert in seiner Enzyklika an die größte Aufklärungsbewegung der Geschichte – an das Christentum. Bis heute bleibt die Morallehre der Kirche der wirksamste und wichtigste Schutz der Würde der menschlichen Person. Quelle: CNA Deutsch, 19. Juni, 2021  Autor: Dr. Thorsten Paprotny

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Die wahre Freiheit des Menschen

Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 19 Papst St. Johannes Paul II. auf dem Petersplatz: Die Aufnahme entstand um das Jahr 1978. Foto: LOR / Vatican Media / Archiv Die Enzyklika „Veritatis splendor“ erweist sich gerade in der heutigen Zeit als wegweisend und wertvoll, denn die kontrovers diskutierten Themen von Glauben und Moral werden von dem heiligen Johannes Paul II. bereits bedacht, geprüft und gedeutet. So spricht er auch über die „Freiheit des Menschen“. Wer römisch-katholisch ist, weiß, dass die recht verstandene Freiheit nicht in der absoluten Autonomie der Person, nicht in der beliebigen Verfügbarkeit über das eigene Leben liegt. Ja, wir können tun, was uns beliebt – aber wer tut, was ihm beliebt, bewegt sich auf dem Weg der Sünde. Johannes Paul II. warnt energisch davor, „die Freiheit derart zu verherrlichen, daß man sie zu einem Absolutum machte, das die Quelle aller Werte wäre“: „In diese Richtung bewegen sich Lehren, die jeden Sinn für die Transzendenz verloren haben oder aber ausdrücklich atheistisch sind. Dem Gewissen des einzelnen werden die Vorrechte einer obersten Instanz des sittlichen Urteils zugeschrieben, die kategorisch und unfehlbar über Gut und Böse entscheidet. Zu der Aussage von der Verpflichtung, dem eigenen Gewissen zu folgen, tritt unberechtigterweise jene andere, das moralische Urteil sei allein deshalb wahr, weil es dem Gewissen entspringt.“ Dies sei eine „radikal subjektivistische Konzeption des sittlichen Urteils“. Den Verfall des katholischen Gewissensbegriffs können wir in vielen gegenwärtigen Diskussionen – etwa bei der Kommunionspendung für Nichtkatholiken – beobachten. Auch viele andere Dimension des menschlichen Lebens verlangen, die „allgemeine Erkenntnis auf eine bestimmte Situation anzuwenden“ und auf diese Weise ein Urteil über das richtige Verhalten zu treffen. Wer aber das Ich absolut setzt, geht in die Irre. Sogleich kritisiert der heilige Papst die Verbindung von einer „Verherrlichung der Freiheit“ mit einer „relativistischen Moralauffassung“: „Gewisse Richtungen der heutigen Moraltheologie interpretieren unter dem Einfluß hier in Erinnerung gerufener subjektivistischer und individualistischer Strömungen das Verhältnis der Freiheit zum Sittengesetz, zur menschlichen Natur und zum Gewissen in neuer Weise und schlagen neuartige Kriterien für die sittliche Bewertung von Handlungen vor: es sind dies Tendenzen, die in ihrer Verschiedenheit darin übereinstimmen, die Abhängigkeit der Freiheit von der Wahrheit abzuschwächen oder sogar zu leugnen.“ Die Unterscheidung von Gut und Böse liegt nicht im Ermessen des Menschen. Gott allein steht diese Macht zu: „Gewiß, der Mensch ist von dem Augenblick an frei, in dem er die Gebote Gottes erkennen und aufnehmen kann. Und er ist im Besitz einer sehr weitgehenden Freiheit, denn er darf »von allen Bäumen des Gartens« essen. Aber es ist keine unbegrenzte Freiheit: Sie muß vor dem »Baum der Erkenntnis von Gut und Böse« haltmachen, da sie dazu berufen ist, das Sittengesetz, das Gott dem Menschen gibt, anzunehmen. Tatsächlich findet gerade in dieser Annahme die Freiheit des Menschen ihre wahre und volle Verwirklichung. Gott, der allein gut ist, erkennt genau, was für den Menschen gut ist, und kraft seiner eigenen Liebe legt er ihm dies in den Geboten vor.“ Gottes Gebote schränken die Freiheit des Menschen nicht ein, im Gegenteil – auch wenn dies, so Johannes Paul II., von einigen katholischen Moraltheologen behauptet werde: „In einem solchen Zusammenhang müssen unbedingt die Grundbegriffe der menschlichen Freiheit und des Moralgesetzes sowie ihre tiefen, inneren Beziehungen im Lichte des Wortes Gottes und der lebendigen Überlieferung der Kirche geklärt werden. Nur so wird es möglich sein, den berechtigten Ansprüchen menschlicher Vernünftigkeit dadurch zu entsprechen, daß man die gültigen Elemente einiger Strömungen der heutigen Moraltheologie integriert, ohne das moralische Erbgut der Kirche durch Thesen zu beeinträchtigen, die aus einem falschen Autonomiebegriff herrühren.“ Das Zweite Vatikanische Konzil verlange „Wachsamkeit gegenüber einem falschen Begriff der Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“: „Was den Menschen betrifft, so führt dann ein solcher Autonomiebegriff zu besonders schädlichen Auswirkungen, und nimmt schlußendlich atheistischen Charakter an: »Denn das Geschöpf sinkt ohne den Schöpfer ins Nichts… überdies wird das Geschöpf selbst durch das Vergessen Gottes unverständlich«.“ In diesem Sinne bekräftigt Johannes Paul II. nicht subjektivistische Wünsche und Fantasien über eine weltliche Autonomie der Person, sondern die Lehre der Kirche aller Zeiten und Orte: „Das Sittengesetz kommt von Gott und findet immer in ihm seine Quelle: Aufgrund der natürlichen Vernunft, die aus der göttlichen Weisheit stammt, ist es zugleich das dem Menschen eigene Gesetz. Das Naturgesetz ist nämlich, wie wir gesehen haben, »nichts anderes als das von Gott uns eingegebene Licht des Verstandes. Dank seiner wissen wir, was man tun und was man meiden soll. Dieses Licht und dieses Gesetz hat uns Gott bei der Erschaffung geschenkt«. Die richtige Autonomie der praktischen Vernunft bedeutet, daß der Mensch ein ihm eigenes, vom Schöpfer empfangenes Gesetz als Eigenbesitz in sich trägt. Doch die Autonomie der Vernunft kann nicht die Erschaffung der Werte und sittlichen Normen durch die Vernunft bedeuten.“ Die „wahre sittliche Autonomie“ liegt nicht in der Leugnung oder Ablehnung, sondern einzig in der „Annahme des Sittengesetzes“: „Die Freiheit des Menschen und das Gesetz Gottes begegnen einander und sind aufgerufen, sich im Sinne des freien Gehorsams des Menschen gegenüber Gott und des unverdienten Wohlwollens Gottes gegenüber dem Menschen gegenseitig zu durchdringen. Der Gehorsam Gott gegenüber ist daher nicht, wie manche meinen, eine Heteronomie, so als wäre das moralische Leben dem Willen einer absoluten Allmacht außerhalb des Menschen unterworfen, die der Behauptung seiner Freiheit widerspricht. … Die der Freiheit Gottes nachgebildete Freiheit des Menschen wird durch dessen Gehorsam gegenüber dem Gesetz Gottes nicht nur nicht verneint, sondern vielmehr bleibt sie erst durch diesen Gehorsam in der Wahrheit und entspricht der Würde des Menschen, wie das Konzil offen schreibt: »Die Würde des Menschen verlangt, daß er in bewußter und freier Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem innerem Drang oder unter bloßem äußerem Zwang. Eine solche Würde erwirbt der Mensch, wenn er sich aus aller Knechtschaft der Leidenschaften befreit und sein Ziel in freier Wahl des Guten verfolgt sowie sich die geeigneten Hilfsmittel wirksam und in angestrengtem Bemühen verschafft« (Gaudium et spes, 75).“ Der heilige Johannes Paul II. wirbt um unsere Treue zur Kirche des Herrn

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Die Moral des Evangeliums

Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 18 Konzilsväter auf dem Petersplatz im Oktober 1961 Foto: Peter Geymayer / Wikimedia (Gemeinfrei) In der Moderne ist es zeitweilig modisch, nicht allein törichterweise „Jesus ja – Kirche nein“ zu sagen, sondern auch bunt illuminierte Fantasien über die Trennung von Glauben und Moral aufzubringen. Der heilige Johannes Paul II. hat in der Enzyklika „Veritatis splendor“ die unauflösliche Verwobenheit dieser beiden Dimensionen verdeutlicht. Gerade in Zeiten, in denen auf dem „Synodalen Weg“ und von postmodernistischen Theologien der Kern des Glaubens und der Lehre relativistisch betrachtet wird, erweist sich die Lektüre der Lehrschreiben aus dem Pontifikat Johannes Pauls II. als notwendig und hilfreich. Der Papst verdeutlicht die Moral des Evangeliums am Beispiel des Gesprächs Jesu mit dem reichen Jüngling, dargelegt im 19. Kapitel des Matthäus-Evangeliums. Der Herr wies ihn an, die Gebote zu halten und ihm nachzufolgen: „Für den jungen Mann ist es nicht zuerst eine Frage nach den Regeln, die befolgt werden müssen, als vielmehr eine Frage nach Sinnerfüllung für das Leben. Und in der Tat liegt dem Menschen bei jeder Entscheidung und jeder Handlung dieses Verlangen am Herzen; es ist die stille Suche und der innere Anstoß, der die Freiheit in Bewegung setzt. Diese Frage ist letzten Endes ein Appell an das absolute Gute, das uns anzieht und uns zu sich ruft, sie ist der Widerhall einer Berufung durch Gott, Ursprung und Ziel des Lebens des Menschen.“ Das Tun des „sittlich Guten“ und das „ewige Leben“ lassen sich nicht voneinander trennen. Die Frage des Jünglings stelle sich, so Johannes Paul II., auch heute. Darum müsse sich der Mensch neu an Christus wenden, um zu erfahren, was Gut und Böse ist: „Wenn wir also in das Innerste der Moral des Evangeliums vordringen und ihren tiefen und unwandelbaren Inhalt erfassen wollen, müssen wir sorgfältig den Sinn der von dem reichen Jüngling des Evangeliums gestellten Frage und mehr noch den Sinn der Antwort Jesu erforschen, indem wir uns von ihm leiten lassen. Jesus antwortet nämlich mit pädagogischer Einfühlung und Behutsamkeit, indem er den jungen Mann gleichsam an der Hand nimmt und Schritt für Schritt zur Wahrheit hinführt.“ Wer nach dem Guten fragt, ist bewegt von der Frage nach Gott, der die Fülle des Guten ist. Der Mensch ist dazu berufen, sittlich zu leben und die Gebote zu befolgen: „Das Gute besteht darin, Gott zu gehören, ihm zu gehorchen, demütig mit ihm unseren Weg zu gehen, Gerechtigkeit zu üben und die Güte zu lieben (vgl. Mich 6, 8). Den Herrn als Gott anzuerkennen, ist der fundamentale Kern, das Herzstück des Gesetzes, von dem sich die einzelnen Gebote herleiten und dem sie untergeordnet sind. Durch die Moral der Gebote wird die Zugehörigkeit des Volkes Israel zum Herrn offenkundig, denn Gott allein ist derjenige, der gut ist.“ Gottes Gebote schenken Orientierung und bilden die Richtschnur für das Leben des Menschen: „Jesus führt die Gebote Gottes, insbesondere das Gebot der Nächstenliebe, dadurch ihrer Erfüllung zu, daß er ihre Forderungen verinnerlicht und ihren Anforderungen größere Radikalität verleiht: Die Liebe zum Nächsten entspringt einem Herzen, das liebt und das eben deshalb, weil es liebt, bereit ist, die höchsten Forderungen zu leben. Jesus zeigt, daß die Gebote nicht als eine nicht zu überschreitende Minimalgrenze verstanden werden dürfen, sondern vielmehr als eine Straße, die offen ist für einen sittlichen und geistlichen Weg der Vollkommenheit, deren Seele die Liebe ist.“ Der reiche Jüngling fragt ernsthaft nach. Er begnügt sich nicht mit den sittlichen Idealen. Der Herr sagt zu ihm, er solle all seinen Besitz verkaufen und in die Nachfolge eintreten. Alle Gebote hat er befolgt, aber er erweist sich als unfähig, dem Ruf Christi ganz zu entsprechen. Dieser Form der liebenden Hingabe verweigert er sich: „Die Vollkommenheit erfordert jene Reife in der Selbsthingabe, zu der die Freiheit des Menschen berufen ist. … Das Wort Jesu enthüllt die besondere Dynamik des Wachstums der Freiheit zur Reife und bezeugt zugleich die fundamentale Beziehung der Freiheit zum göttlichen Gesetz. Die Freiheit des Menschen und das Gesetz Gottes widersprechen sich nicht, sondern im Gegenteil, sie fordern einander.“ Wer aber dem Fleisch angehört, der hält das Gesetz Gottes für eine Zumutung und begreift dieses als Last, „ja als eine Verneinung oder jedenfalls eine Einschränkung der eigenen Freiheit“: „Der Weg und zugleich der Inhalt dieser Vollkommenheit besteht in der Nachfolge Christi, darin, daß man Jesus folgt, nachdem man dem eigenen Besitz und sich selbst entsagt hat. Genauso endet das Gespräch mit dem jungen Mann: »Dann komm und folge mir nach!« (Mt 19, 21).“ Der Weg des Herrn ist ein Weg der Liebe, der Ruf, vollkommen zu sein im Gebot der Liebe, einer Liebe, die Geschenk und Geheimnis bleibt. Der heilige Johannes Paul II. appelliert darum leidenschaftlich: „Kein Riß darf die Harmonie zwischen Glaube und Leben gefährden: die Einheit der Kirche wird nicht nur von den Christen verletzt, die die Glaubenswahrheiten ablehnen oder verzerren, sondern auch von jenen, die die sittlichen Verpflichtungen verkennen, zu denen sie das Evangelium aufruft (vgl. 1 Kor 5, 9-13).“ Es sei seit der apostolischen Zeit die Aufgabe der Bischöfe, die Lehre des Herrn – untrennbar verknüpft mit der Lehre der Kirche – zu bewahren, zu verkünden und die „Vorgehenswiesen derjenigen mit aller Klarheit“ anzuzeigen, „die mit ihren Lehren oder mit ihrem Verhalten Spaltungen Vorschub leisteten“: „Die Förderung und Bewahrung des Glaubens und des sittlichen Lebens in der Einheit der Kirche ist die von Jesus den Aposteln anvertraute Aufgabe (vgl. Mt 28, 19-20), die auf das Amt ihrer Nachfolger übergeht. Das alles findet sich in der lebendigen Überlieferung, durch die – wie das II. Vatikanische Konzil lehrt – »die Kirche in Lehre, Leben und Kult alles, was sie selber ist, alles, was sie glaubt durch die Zeiten weiterführt und allen Geschlechtern übermittelt. Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt«. Im Geist empfängt die Kirche die Schrift und gibt sie weiter als Zeugnis für »das Große«, das Gott in der Geschichte bewirkt (vgl. Lk 1, 49), durch den Mund der Kirchenväter und -lehrer bekennt sie

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Die Freiheit der Kinder Gottes

Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 17 llustration Foto: Sunyu / Unsplash (CC0) Ein großes Anliegen war Papst Johannes Paul II. die „ständige Vertiefung der sittlichen Erkenntnis“, wie er in der Enzyklika „Veritatis splendor“ ausführt. Er denkt an seine Vorgänger, aber auch an die Gemeinschaft der Bischöfe, die bestrebt waren, den Wert und die Bedeutung der Sittenlehre vertieft auszuarbeiten und zu verkünden – „im Namen und mit der Autorität Jesu Christi“. Wichtig sei,  „mit der Garantie des Beistands des Geistes der Wahrheit“ die Menschen  „zu einem besseren Verständnis der sittlichen Ansprüche im Bereich der menschlichen Sexualität, der Familie, des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens“ anzuleiten. Wir können uns vielleicht vorstellen, wie der heilige Johannes Paul II. auf das Bekenntnis einiger Bischöfe zu einer Berücksichtigung der von Michel Foucault inspirierten „Lebenswissenschaften“ reagiert hätte. Er stellt berechtigterweise auch 1993 die Sorge fest, dass die „Morallehre der Kirche“ Anfeindungen ausgesetzt ist, ja dass diese lebensfördernde und -dienliche Lehre gefährdet bleibt, fortwährend verfälscht oder verneint zu werden. Auch seinerzeit war die Morallehre schon bedroht von einer laxen Theologie, die die „fundamentalen Wahrheiten“ relativierte oder ignorierte: „Es handelt sich nicht mehr um begrenzte und gelegentliche Einwände, sondern um eine globale und systematische Infragestellung der sittlichen Lehrüberlieferung aufgrund bestimmter anthropologischer und ethischer Auffassungen. Diese haben ihre Wurzel in dem mehr oder weniger verborgenen Einfluß von Denkströmungen, die schließlich die menschliche Freiheit der Verwurzelung in dem ihr wesentlichen und für sie bestimmenden Bezug zur Wahrheit beraubt. So wird die herkömmliche Lehre über das Naturgesetz, über die Universalität und bleibende Gültigkeit seiner Gebote abgelehnt; Teile der kirchlichen Moralverkündigung werden für schlechthin unannehmbar gehalten; man ist der Meinung, das Lehramt dürfe sich in Moralfragen nur einmischen, um die »Gewissen zu ermahnen« und »Werte vorzulegen«, nach denen dann ein jeder autonom die Entscheidungen und Entschlüsse seines Lebens inspirieren wird.“ Wir sehen heute staunend die Aktualität dieser Überlegungen des heiligen Papstes. Die Revision der Morallehre wird heute – und es ist ein Vorgang von skandalöser Tragweite – von Amtsträgern der Kirche gefordert. Die Autonomie des Menschen wird von manchen Theologen als höchstes Gut angesehen. Das Naturrecht wird als beliebige Meinung qualifiziert. Johannes Paul II. sieht bereits deutlich, dass die „Antwort der Kirche“ auch in einigen Priesterseminaren bereits abgeschwächt wird und dass an manchen Theologischen Fakultäten eine große „Diskrepanz“ zwischen den dortigen Lehrmeinungen und der Lehre der Kirche herrscht. Er fragt darum: „Besitzen die Gebote Gottes, die dem Menschen ins Herz geschrieben sind und Bestandteil des Bundes Gottes mit ihm sind, tatsächlich die Fähigkeit, die täglichen Entscheidungen der einzelnen Menschen und der gesamten Gesellschaft zu erleuchten? Ist es möglich, Gott zu gehorchen und damit Gott und den Nächsten zu lieben, ohne diese Gebote unter allen Umständen zu respektieren? Verbreitet ist auch der Zweifel am engen und untrennbaren Zusammenhang zwischen Glaube und Moral, so als würde sich die Zugehörigkeit zur Kirche und deren innere Einheit allein durch den Glauben entscheiden, während man in Sachen Moral einen Pluralismus von Anschauungen und Verhaltensweisen dulden könnte, je nach Urteil des individuellen subjektiven Gewissens bzw. der Verschiedenheit der sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen.“ Das, was Johannes Paul II. bereits 1993 benennt, hat sich seither in umfassender Weise ausgebreitet. Das postmoderne Programm einer Separierung von Glaube und Moral spiegelt sich in einer Orientierungslosigkeit, die als Erneuerungsversuch der Kirche firmiert. Das kirchlich gebildete Gewissen und das „subjektive Gewissen“ scheinen sogar für viele Katholiken mittlerweile ununterscheidbar, ja identisch geworden zu sein. Aber auch das Eintreten des Jüngsten Gerichtes ist nicht davon abhängig, ob einzelne Menschen daran glauben oder nicht. Die Lehre der Kirche besteht fort, selbst wenn sie nicht verkündet oder wenn deren Verbindlichkeit von Theologen oder Bischöfen geleugnet wird. Wer der Sünde folgt – und dazu gehören auch die Überhöhung des Ichs und der stolze Glaube an die Selbstverwirklichung –, begibt sich in die Knechtschaft. Die Abwendung von Gott und seinen Geboten macht den Menschen arm und unglücklich. Auch alle Selbstrechtfertigungen schützen und helfen nicht. In ihnen spiegelt sich nur die Weisheit dieser Welt, die reine Torheit ist und sich von dem reichen Erbarmen Gottes abschotten will. Die wahre „Lebenswissenschaft“, der wir zu folgen bestellt sind, ist das Evangelium Jesu Christi. Daran erinnert der heilige Johannes Paul II.: „Wer »nach dem Fleische« lebt, empfindet das Gesetz Gottes als eine Last, ja als eine Verneinung oder jedenfalls eine Einschränkung der eigenen Freiheit. Wer hingegen von der Liebe beseelt ist und »sich vom Geist leiten läßt« (Gal 5, 16) und den anderen dienen will, findet im Gesetz Gottes den grundlegenden und notwendigen Weg zur praktischen Übung der frei gewählten und gelebten Liebe. Ja, er spürt den inneren Drang – ein echtes und eigenes »Bedürfnis« und nicht etwa einen Zwang –, nicht bei den Minimalforderungen des Gesetzes stehenzubleiben, sondern sie in ihrer »Fülle« zu leben. Es ist ein noch unsicherer und brüchiger Weg, solange wir auf Erden sein werden, der aber ermöglicht wird von der Gnade, die es uns gewährt, die volle Freiheit der Kinder Gottes zu besitzen (vgl. Röm 8, 21) und somit im sittlichen Leben auf die erhabene Berufung zu antworten, »Söhne im Sohn« zu sein.“ Wer sich in den Willen Gottes einfügt, wer die Gebote in freier Dankbarkeit annimmt und lebt, spürt in sich eine Ahnung der Schönheit, in Gottes großer Weite für immer zu Hause sein zu dürfen. Dies ist ein Vorgeschmack auf den Himmel, der uns verheißen ist – der Weg, zu dem Johannes Paul II. einlädt, heißt: Hingabe an Gott und Treue zur Kirche des Herrn. Vorbilder und Weggefährten können uns alle Heiligen sein. Quelle: CNA Deutsch, 22. Mai, 2021  Autor: Dr. Thorsten Paprotny

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Trügerische Freiheit

Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 16 Papst St. Johannes Paul II. Foto: Osservatore Romano Die Enzyklika „Veritatis splendor“ – von Papst Johannes Paul II. publiziert am 6. August 1993 – wurde schon damals von sehr vielen deutschen Moraltheologen übersehen oder missbilligt. Nationalkirchlicher oder reformtheologischer Eigensinn ist also mitnichten eine Neuheit, sondern eher Ausdruck der beständigen Wiederkehr einer wie immer begründeten Abwendung von Rom. Es hat schon so viele Versuche gegeben, eine Neumodellierung der kirchlichen Lehre anzustellen. Diese traurige Geschichte setzt sich fort. Doch Johannes Paul II. spricht vom „Glanz der Wahrheit“, der jede bunt illuminierte Meinung in Zeit und Ewigkeit überstrahlen und überdauern wird – „die Wahrheit erleuchtet den Verstand und formt die Freiheit des Menschen, der auf diese Weise angeleitet wird, den Herrn zu erkennen und zu lieben“. Wahrheit und Liebe lassen sich nicht voneinander lösen. Der endliche Verstand, der meint, sich selbst aufzuklären und als autonom begreift, gerät ins Dunkel, bisweilen in die Finsternis seiner eigenen Meinungen, die er mit der Wahrheit identifiziert. Umkehr ist nötig. Nur die Wahrheit, die Jesus Christus in Person ist, erleuchtet den Verstand, führt den Menschen aus der Verstrickung seiner eigenen Befindlichkeiten und Irrtümer zum Licht, das die Welt erleuchtet. Dieses Licht Christi klärt auf über Sünde und formt sodann den Menschen, der sich nicht mehr trotzig und feindselig von Gott abwendet, sondern – wie der heilige Papst formuliert – „den Herrn zu erkennen und zu lieben“ lernt. Eigentlich, so denken wir heute lesend und betrachtend, ist der Glaube nicht nur schön, sondern auch einfach, so einfach, dass ein gotteskindliches Herz diesen dankbar annehmen und die Weisungen der Kirche getreu befolgen kann. Doch dem Gläubigen fällt es schwer, sich auf Gott zu besinnen. So viele Christen verlernen die Ehrfurcht vor Christus, versäumen es, Gott anzubeten, fühlen sich eingeengt und möchten sich vom scheinbaren Joch der kirchlichen Lehre befreien. Wir sehen das in diesen Tagen mit neuer Schärfe. Johannes Paul II. spricht von kirchlichem Gehorsam und damit zugleich auch von dem hörenden Herz des Gläubigen, der offen sein soll für Gottes Wort und Weisung: „Dieser Gehorsam ist nicht immer leicht. In der Folge der geheimnisvollen Ursünde, begangen auf Anstiftung Satans, der »ein Lügner und der Vater der Lüge ist« (Joh 8, 44), ist der Mensch immerfort versucht, seinen Blick vom lebendigen und wahren Gott ab- und den Götzen zuzuwenden (vgl. 1 Thess 1, 9), während er »die Wahrheit Gottes mit der Lüge« vertauscht (Röm 1, 25); damit wird auch seine Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, beeinträchtigt und sein Wille, sich ihr zu unterwerfen, geschwächt. Und so geht er, während er sich dem Relativismus und Skeptizismus überläßt (vgl. Joh 18, 38), auf die Suche nach einer trügerischen Freiheit außerhalb dieser Wahrheit.“ Diese „trügerische Freiheit“ hat viele Gesichter, die Reihe der Versuchungen ist nahezu endlos – und reicht bis weit in den Raum der Kirche hinein. Lässt es sich nicht leichter leben ohne Gott? Wollen wir nicht endlich den Ballast der Morallehre abwerfen, ein freizügiges, wahrhaft existenzialistisch freies Leben führen – des eigenen Glückes Schmied sein? Suchen wir nicht ein ungebundenes Glück abseits normativer, sakramentaler und naturrechtlicher Vorgaben? Darf nicht jeder Mensch leben, wie es ihm gefällt – und trotzdem darauf hoffen, dass Gott das nicht nur anerkennt, sondern irgendwie sogar gutheißt? Wir können Lebensformen vergötzen, wir können Lebensweisen glorifizieren – und wir können auch sogar uns verführen lassen all das, was Sünde ist, als Ausdrucksform moderner Freiheiten zu begreifen. Wir können uns zur absoluten Autonomie des Menschen bekennen – und das Credo der Kirche relativieren. Der Mensch steht inmitten der Versuchungen, er wird verführt vom Konsumismus und dem Reigen an zeitgeistlichen Unsitten der mondänen Weltlichkeit. Doch Bekehrung ist möglich, ist nötig. Ja, der Mensch kann sich in der modernen Welt verführen und betäuben lassen – und schweren Schaden nehmen an der Seele. Eine regional modernistisch gesinnte Kirche selbst würde diese Schäden vermehren, wenn sie die Treue zum Evangelium und zur Lehre der Kirche aller Zeiten und Orte aufgeben würde – einer trügerischen, auch tückischen Freiheit der Menschen wegen. Nie ist die Unfreiheit, nie ist das Elend des Menschen aber größer als im Stadium der Abwendung von Gott und seiner Kirche. Johannes Paul II. bekräftigt in seiner großen Enzyklika, die hier in mehreren Betrachtungen gewürdigt werden soll, dass Gottes Wahrheit immer größer ist als alle groß erscheinenden, aber falschen Meinungen und fehlerhaften Haltungen: „Aber keine Finsternis des Irrtums und der Sünde vermag das Licht des Schöpfergottes im Menschen völlig auszulöschen. In der Tiefe seines Herzens besteht immer weiter die Sehnsucht nach der absoluten Wahrheit und das Verlangen, in den Vollbesitz ihrer Erkenntnis zu gelangen. Davon gibt das unermüdliche menschliche Suchen und Forschen auf jedem Gebiet ein beredtes Zeugnis. Das beweist noch mehr die Suche nach dem Sinn des Lebens. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik ist zwar ein großartiges Zeugnis der Fähigkeit des Verstandes und der Ausdauer der Menschen, befreit aber die Menschheit nicht davon, sich letzte religiöse Fragen zu stellen, sie spornt sie vielmehr dazu an, die schmerzlichsten und entscheidendsten Kämpfe, jene im Herzen und im Gewissen, auszutragen.“ Mit Johannes Paul II. dürfen wir voller Hoffnung und Zuversicht sein: Ja, die Sehnsucht nach Gott besteht fort. Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat. Quelle: CNA Deutsch, 08. Mai, 2021  Autor: Dr. Thorsten Paprotny

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Die christliche Familie und die soziale Frage

Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 15 Der heilige Johannes Paul II. war Papst von 1978 bis 2005 Foto: Foto: CC Wikimedia Johannes Paul II.  veröffentlicht am 1. Mai 1991 mit „Centesimus annus“ die dritte Sozialenzyklika seines Pontifikats und würdigt insbesondere Leo XIII., der die Zentralität der sozialen Frage für die katholische Kirche nachdrücklich betont hat. Gegen den herrschenden „Geist der Erneuerung“ meldete sich Leo zu Wort: „Der Papst, die Kirche und ebenso die bürgerliche Gesellschaft standen vor einer durch Konflikt gespaltenen Gesellschaft. Dieser Konflikt war um so härter und unmenschlicher als er weder Regel noch Gesetz kannte. Es war der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit oder — wie es die Enzyklika nannte — die Arbeiterfrage. Eben zu diesem Konflikt wollte der Papst in den schärfsten Worten, die ihm damals zur Verfügung standen, seine Meinung kundtun.“ Der modernistische Ungeist wirkte zu Leos Zeiten auf vielfältige Weise, nicht allein in der Theologie und im Leben der Kirche, sondern auch im sozialen Bereich. Atheistische Ideologien breiteten sich aus, der Sozialismus und der Liberalismus, ebenso wie Faschismus und Nationalsozialismus viele Jahrzehnte später. Der Auftrag der Kirche sei es, Leitlinien zur Orientierung zu bieten, sich von Irrlehren abzugrenzen, die sozialen Nöte der Menschheit ernst zu nehmen und mit der katholischen Soziallehre adäquat zu antworten. Johannes Paul II. schreibt: „In der Tat, die Verkündigung und Verbreitung der Soziallehre gehört wesentlich zum Sendungsauftrag der Glaubensverkündigung der Kirche; sie gehört zur christlichen Botschaft, weil sie deren konkrete Auswirkungen für das Leben in der Gesellschaft vor Augen stellt und damit die tägliche Arbeit und den mit ihr verbundenen Kampf für die Gerechtigkeit in das Zeugnis für Christus den Erlöser miteinbezieht. Sie bildet darüber hinaus eine Quelle der Einheit und des Friedens angesichts der Konflikte, die im wirtschaftlich-sozialen Bereich unvermeidlich auftreten. Auf diese Weise wird es möglich, die neuen Situationen zu bestehen, ohne die transzendente Würde der menschlichen Person weder bei sich selbst noch bei seinen Gegnern zu verletzen, und sie zu einer richtigen Lösung zu führen. … Jenseits aller Rechte, die der Mensch durch sein Tun und Handeln erwirbt, besitzt er Rechte, die nicht im Entgelt für seine Leistung bestehen, sondern seiner wesenhaften Würde als Person entspringen.“ Von der sozialen Frage, von der Armut vieler Menschen auch in den Wohlstandsgesellschaften, ist in der Kirche heute nur selten noch die Rede. Der Papst kritisiert zunächst sozialistische Lehren: „[Der Sozialismus] betrachtet den einzelnen Menschen lediglich als ein Instrument und Molekül des gesellschaftlichen Organismus, so daß das Wohl des einzelnen dem Ablauf des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Mechanismus völlig untergeordnet wird; gleichzeitig ist man der Meinung, daß eben dieses Wohl unabhängig von freier Entscheidung und ohne eine ganz persönliche und unübertragbare Verantwortung gegenüber dem Guten verwirklicht werden könne. Der Mensch wird auf diese Weise zu einem Bündel gesellschaftlicher Beziehungen verkürzt, es verschwindet der Begriff der Person als autonomes Subjekt moralischer Entscheidung, das gerade dadurch die gesellschaftliche Ordnung aufbaut.“ Er würdigt den Umbruch von 1989, scheut sich aber nicht, die immensen Probleme des Kapitalismus anzusprechen: „Trotz der großen Veränderungen, die in den fortgeschrittenen Gesellschaften stattgefunden haben, ist das menschliche Defizit des Kapitalismus mit der daraus sich ergebenden Herrschaft der Dinge über die Menschen keineswegs überwunden; ja, für die Armen kam zum Mangel an materiellen Gütern noch der Mangel an Wissen und Bildung hinzu, der es ihnen unmöglich macht, sich aus ihrer Lage erniedrigender Unterwerfung zu befreien.“ In diesem Sinne stellt er fest: „Man sieht daraus, wie unhaltbar die Behauptung ist, die Niederlage des sogenannten »realen Sozialismus« lasse den Kapitalismus als einziges Modell wirtschaftlicher Organisation übrig. Es gilt, die Barrieren und Monopole zu durchbrechen, die so viele Völker am Rande der Entwicklung liegenlassen.“ Unbeirrt tritt der Papst für die Menschenwürde ein und warnt zugleich prophetisch vor einem sich ausbreitenden Konsumismus: „Die Entscheidung für bestimmte Formen von Produktion und Konsum bringt immer auch eine bestimmte Kultur als Gesamtauffassung des Lebens zum Ausdruck. Hier entsteht das Phänomen des Konsumismus. Bei der Entdeckung neuer Bedürfnisse und neuer Möglichkeiten, sie zu befriedigen, muß man sich von einem Menschenbild leiten lassen, das alle Dimensionen seines Seins berücksichtigt und die materiellen und triebhaften den inneren und geistigen unterordnet. Überläßt man sich hingegen direkt seinen Trieben, unter Verkennung der Werte des persönlichen Gewissens und der Freiheit, können Konsumgewohnheiten und Lebensweisen entstehen, die objektiv unzulässig sind und nicht selten der körperlichen und geistigen Gesundheit schaden.“ Der heilige Johannes Paul II. sieht hier Zeichen einer seelischen Verwahrlosung. Menschen folgen dem Lustgewinn, leben triebbestimmt und entfremden sich von Gott. Das Böse dringt in neue Räume ein und findet neue Wege: „Ein augenfälliges Beispiel künstlichen Konsums, der sich gegen die Gesundheit und gegen die Würde des Menschen richtet und sich gewiß nicht leicht unter Kontrolle bringen läßt, ist die Droge. Ihre Ausbreitung ist Anzeichen einer ernsten Funktionsstörung des Gesellschaftssystems und schließt gleichfalls eine materialistische und in einem gewissen Sinn destruktive »Lesart« der menschlichen Bedürfnisse ein. … Die Droge wie auch die Pornographie und andere Konsumismusformen versuchen die entstandene geistige Leere auszufüllen, indem sie sich die Anfälligkeit der Schwachen zunutze machen.“ Man könnte denken, dass Johannes Paul II. hier ganz besonders gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick nimmt, die dazu führen, dass Menschen sich von einem Luststreben okkupieren lassen, so dass sie sich auch erschreckend enthusiastisch in die Fesseln der Sünde hineinbegeben, von dem Irrtum geleitet, auf diese Weise besonders frei zu sein. Sie lassen sich gehen, verstricken sich aber nur immer tiefer hinein in die Abgründe der Sünde und auch der sozialen Not. Getrieben von der Sucht, sich zu befriedigen, bleiben sie unausweichlich unbefriedigt, ja verelenden in vielerlei Hinsicht, geistig, geistlich und materiell. Ein Gegenmodell zu den Versuchungen der Welt und ein Hort sozialer Stabilität ist die Familie. Johannes Paul II. bekennt sich auch darum zur christlichen Familie: „Die erste und grundlegende Struktur zu Gunsten der »Humanökologie« ist die Familie, in deren Schoß der Mensch die entscheidenden Anfangsgründe über die Wahrheit und das Gute empfängt, wo er lernt, was lieben und geliebt werden heißt und was es konkret besagt, Person zu sein. Hier ist die auf die Ehe gegründete Familie gemeint,

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