Dr. Thorsten Paprotny

Die „Königswürde“ des Christen

Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 3 Christus, der wahre König, mit musizierenden Engeln, gemalt von Hans Memling um 1480; Foto: Wikimedia (CC0) In selbstbezüglichen Debatten in der Kirche – nicht nur in Deutschland – werden Macht-, Gestaltungs- und Reformansprüche formuliert und erhoben, was nicht nur narkotisch ist, sondern auch dem Sendungsauftrag zuwiderläuft. Stärker als in der Nachkonzilszeit vernehmen Gläubige und Suchende unverständlicherweise bisweilen auch aus bischöflichem Mund Aussagen, die mit dem Glauben und der Lehre der Kirche nicht übereinstimmen. Selten hören wir Worte darüber, wozu der Christ in der Welt von heute berufen ist – zu einer okkulten Pauschalkritik an der Kirche und zu einem emotionalen Lamento ganz sicher nicht. Ein wichtiger Abschnitt der Enzyklika „Redemptor hominis“ ist der „Teilnahme an der königlichen Sendung Christi“ gewidmet. Johannes Paul II. spricht von der „besonderen Würde unserer Berufung“, die „»Königswürde«“ genannt werden könnte: „Diese Würde drückt sich aus in der Bereitschaft zum Dienst nach dem Beispiel Christi, der »nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen«. Wenn man also im Licht dieser Haltung Christi nur wirklich »herrschen« kann, indem man »dient«, verlangt »das Dienen« gleichzeitig eine solche geistige Reife, die man geradezu als »herrschen« bezeichnen muß. Um würdig und wirksam den anderen dienen zu können, muß man sich selbst zu beherrschen vermögen, muß man jene Tugenden besitzen, die diese Beherrschung ermöglichen.“ Der Papst macht sogleich deutlich, dass die „Teilnahme an der königlichen Sendung Christi“ nicht gelöst werden kann von „jedem Bereich der christlichen und zugleich menschlichen Moral“. Gegen den Trend der Zeit – heute noch dominanter als 1979 – bekräftigt er, dass das Bild des Volkes Gottes nicht allein von „soziologischen Voraussetzungen abgeleitet“  werden dürfe: „Die Kirche als menschliche Gesellschaft kann natürlich auch nach solchen Kriterien untersucht und bestimmt werden, deren sich die Wissenschaften jeder beliebigen menschlichen Gesellschaft gegenüber bedienen. Doch reichen diese Kriterien nicht aus. Für die Gemeinschaft des Volkes Gottes als ganze und für jedes ihrer Glieder geht es aber nicht nur um eine besondere »soziale Zugehörigkeit«; hier handelt es sich um eine besondere »Berufung«, die für jeden einzelnen und für alle zusammen wesentlich ist. Die Kirche ist nämlich als Volk Gottes … auch der »Mystische Leib Christi«.“ Johannes Paul II. gesteht „Mängel“ in der Gemeinschaft der Kirche in ihrer weltlichen Gestalt zu, betont aber zugleich das Merkmal, das von soziologischen Erhebungen nie erfasst werden kann. Die Glieder der Kirche, Kleriker wie Weltchristen, seien gerade dadurch Gemeinschaft, dass alle mit Christus verbunden seien, „wenigstens dadurch, daß sie in ihrer Seele das unauslöschliche Merkmal eines Christen tragen“. Der heilige Papst würdigt nachkonziliare Initiativen, auch „synodaler“ Art“. Doch „jede Initiative“ könne einzig „der echten Erneuerung der Kirche“ dienen, wenn sie dazu „beiträgt, das wahre Licht Christi zu verbreiten“. Dass die unverbrüchliche Treue zur Lehre der Kirche dazugehört, ist selbstverständlich. Die „Königswürde“ des Christen ist untrennbar mit Selbstbeherrschung und Dienst verknüpft. Der heilige Johannes Paul II. bekräftigt den Wert der „Treue zur eigenen Berufung“. Das gilt für den Weltchristen wie für den Kleriker. Jeder sei berufen, an seinem Platz in der Welt den „»königlichen Dienst«“ zu tun, „dessen Beispiel und schönstes Modell uns von Jesus Christus gegeben worden ist“. Es ist Seine Kirche, in der wir zum Dienst bestellt sind, nicht unsere Kirche, die wir neu gestalten oder gar neu erfinden sollen: „Seine Kirche, die wir alle zusammen bilden, ist »für die Menschen« da in dem Sinne, daß wir, wenn wir uns auf Christi Beispiel stützen und mit der uns von ihm erworbenen Gnade mitarbeiten, jene »Herrschaft« erreichen und so in jedem von uns unser Menschsein voll entfalten können.“ Der Mensch habe das „Geschenk der Freiheit“ erhalten. Doch wie nutzt er diese Freiheit? Heute scheint in einigen Bereichen der Fundamentaltheologie ein abweichendes Verständnis zu bestehen. Wir Katholiken glauben aber nicht an die unbedingte Autonomie des Menschen, sondern an Gott und die Kirche. Wer den Weg in eine unklare Emanzipation des Ichs und eine vermeintliche Selbstgestaltung des Lebens wählt – und so lebt, wie es ihm beliebt, der begibt sich in die Knechtschaft der Sünde: „In unserer Zeit ist man mitunter der irrtümlichen Meinung, daß die Freiheit Selbstzweck sei, daß jeder Mensch dann frei sei, wenn er die Freiheit gebraucht, wie er will, und daß man im Leben der einzelnen und der Gesellschaft nach einer solchen Freiheit streben solle. Die Freiheit ist jedoch nur dann ein großes Geschenk, wenn wir es verstehen, sie bewußt für all das einzusetzen, was das wahre Gute ist. Christus lehrt uns, daß der beste Gebrauch der Freiheit die Liebe ist, die sich in der Hingabe und im Dienst verwirklicht.“ Die Kirche ist also nicht dazu bestimmt, ein Verein der unverbindlichen Nettigkeit zu sein, säkular sympathisch, substanzlos und überflüssig, sondern die Kirche des Herrn, also die Stiftung Jesu Christi. Die Kirche kennt darum auch nicht 1001 Wahrheiten, sondern nur die eine Wahrheit, die Christus selbst ist. Die Kirche – und damit Sie und ich – soll nur die Frohe Botschaft verkünden. Johannes Paul II. widerspricht jeder Apologie des Existenzialismus. Es geht ihm um die Verteidigung der Wahrheit über die Freiheit des Menschen. Darum schreibt er: „Die volle Wahrheit über die menschliche Freiheit ist im Geheimnis der Erlösung tief verwurzelt. Die Kirche dient wahrhaft der Menschheit, wenn sie diese Wahrheit mit unermüdlicher Aufmerksamkeit, starker Liebe und verantwortungsbewußtem Einsatz schützt und sie innerhalb der gesamten eigenen Gemeinschaft durch die Treue zur Berufung eines jeden Christen weitervermittelt und im Leben konkretisiert.“ Quelle: CNA Deutsch, 13. Februar, 2021  Autor: Dr. Thorsten Paprotny

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„Der Mensch ist der Weg der Kirche“

Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 2 Papst Johannes Paul II. auf der Marmolata; Foto: ChurchPOP Von Ängsten, Sorgen und Nöten ist das menschliche Dasein bestimmt. Ein Baby sehnt sich nach der liebevollen Zuwendung seiner Mutter und wird erst ruhig, wenn es in ihren Armen geborgen liegt und wenn ihr liebender Blick auf ihm ruht. Doch Ängste bleiben. So manches Kind begibt sich bekümmert und traurig auf den Weg zur Schule, weil es dort die Feindseligkeit dieser Welt in vielerlei Gestalt fürchtet und nichts sehnlicher hofft, als schadlos heimkehren zu dürfen. Für viele Kinder heute ist auch die eigene Familie ein trostloses Obdach, zerrissen von Streit und Entzweiung. Später machen viele junge und ältere Menschen bittere Erfahrungen, persönlich oder im Berufsleben. Unverschuldet entstehen belastende Situationen, in armen Ländern und in materiell reichen Gesellschaften. Wer an die säkulare Ideologie der Selbstverwirklichung glaubt und zu hören bekommt: „Du hast aus deinem Leben ja nichts Vernünftiges gemacht, du bist doch selbst schuld.“ – der kann nur traurig werden und verzweifeln, in einer bunt illuminierten, lieblosen Welt. Der heilige Johannes Paul II. hat in der ersten Enzyklika „Redemptor hominis„ das Geheimnis der Erlösung beschrieben: „Der Mensch kann nicht ohne Liebe leben. Er bleibt für sich selbst ein unbegreifliches Wesen; sein Leben ist ohne Sinn, wenn ihm nicht die Liebe geoffenbart wird, wenn er nicht der Liebe begegnet, wenn er sie nicht erfährt und sich zu eigen macht, wenn er nicht lebendigen Anteil an ihr erhält. Und eben darum macht Christus, der Erlöser, wie schon gesagt, dem Menschen den Menschen selbst voll kund. … Im Geheimnis der Erlösung wird der Mensch »neu bestätigt« und in gewisser Weise neu geschaffen. Er ist neu erschaffen! … Der Mensch, der sich selbst bis in die Tiefe verstehen will – nicht nur nach unmittelbar zugänglichen, partiellen, oft oberflächlichen und sogar nur scheinbaren Kriterien und Maßstäben des eigenen Seins –, muß sich mit seiner Unruhe, Unsicherheit und auch mit seiner Schwäche und Sündigkeit, mit seinem Leben und Tode Christus nahen. Er muß sozusagen mit seinem ganzen Selbst in ihn eintreten, muß sich die ganze Wirklichkeit der Menschwerdung und der Erlösung »aneignen« und assimilieren, um sich selbst zu finden.“ So gelangt er zur Anbetung und beginnt über sich selbst zu staunen: Der Mensch entdeckt sich als Gottes geliebtes Kind. Er möchte lieben und geliebt sein. Von dem Staunen spricht der Papst, das den Gläubigen erfüllt, wenn er die Schönheit der Würde des Menschen – auch seiner selbst – entdeckt, von der Empfängnis bis in die Stunde des Todes hinein. Darum ist die Kirche berufen und beauftragt, für den Lebensschutz einzustehen und sich nicht mit den Philosophien, Ideologien und politischen Mächten dieser Welt verständnisinnig gemein zu machen: „Die Kirche, die nicht aufhört, das Geheimnis Christi in seiner Gesamtheit zu betrachten, weiß mit voller Glaubensgewißheit, daß die Erlösung, die durch das Kreuz erfolgt ist, dem Menschen endgültig seine Würde und den Sinn seiner Existenz in der Welt zurückgegeben hat, den Sinn, den er in beachtlichem Maße durch die Sünde verloren hatte. Deshalb hat die Erlösung sich im Ostergeheimnis vollendet, das durch das Kreuz und den Tod zur Auferstehung führt.“ Die Kirche, so erinnert Johannes Paul II., ist dazu bestellt, Christus zu verkündigen – und gerade heute, so scheint es, muss im Zeitalter des Relativismus, dessen dämonische Macht auch in den Raum der Kirche eingezogen ist, ihr wahrer Auftrag neu sichtbar werden. Das Evangelium muss verkündet werden, beherzt, mit Leidenschaft und Freude. Wenn in der Kirche nicht von Gott die Rede ist, dann verleugnet sie ihre Bestimmung: „Jeder Mensch soll Christus finden können, damit Christus jeden einzelnen auf seinem Lebensweg begleiten kann mit jener kraftvollen Wahrheit über den Menschen und die Welt, wie sie im Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung enthalten ist, mit der Macht jener Liebe, die hiervon ausstrahlt. … Jesus Christus ist der Hauptweg der Kirche. Er selbst ist unser Weg zum Haus des Vaters und ist auch der Zugang zu jedem Menschen. Auf dieser Straße, die von Christus zum Menschen führt, auf der Christus jedem Menschen zur Seite tritt, darf die Kirche sich von niemandem aufhalten lassen. Das fordert das zeitliche wie auch das ewige Heil des Menschen.“ Von Christus her gewinnt die Kirche ihre Orientierung. Es geht, so Johannes Paul II., nicht um Abstraktionen, nicht um Ideen des Menschseins und nicht um irgendwelche Fantasien scheinbar pastoraler Gestaltung: „Jeder Mensch, der im Mutterschoß empfangen und von seiner Mutter in diese Welt hineingeboren wird, ist gerade wegen dieses Erlösungswerkes der Obhut der Kirche anvertraut.“ Das gilt vom Beginn des Lebens, „vom ersten Moment an, da er unter dem Herzen der Mutter empfangen wird“. Leidenschaftlich schreibt Johannes Paul II., dass die Kirche nicht am Menschen vorbeigehen dürfe, das heißt also – sie ist nicht dazu bestellt, den Menschen in seinen Irrtümern zu bestätigen, sondern ihm den Weg der Heiligkeit zu zeigen, ihn in Wahrheit und Liebe zu begleiten: „Der Mensch in seiner Einmaligkeit – weil er »Person« ist – hat seine eigene Lebensgeschichte und vor allem eine eigene Geschichte seiner Seele. … Dieser Mensch ist der erste und grundlegende Weg der Kirche, ein Weg, der von Christus selbst vorgezeichnet ist und unabänderlich durch das Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung führt.“ Die „fortwährende Neigung zur Sünde“ bestehe in ihm ebenso wie der „ständige Durst nach Wahrheit, nach dem Guten und Schönen“: „Als schwacher Mensch und Sünder tut er oft das, was er nicht will, und was er tun wollte, tut er nicht. So leidet er an einer inneren Zwiespältigkeit, und daraus entstehen viele und schwere Zerwürfnisse auch in der Gesellschaft«.“ Wir wissen, dass heute selbst in der Kirche oft der Begriff und die Wirklichkeit der Sünde geleugnet werden. Wer den Begriff tilgt, tilgt aber nicht die Wirklichkeit der Sünde. Johannes Paul II. fordert eine Klarheit, die die wahre Aufklärung und die Botschaft der Erlösung in ihrer ganzen Schönheit bewusst macht. Der Mensch ist der „Weg der Kirche“: „Da also der Mensch der Weg der Kirche ist, der Weg ihres täglichen Lebens und Erlebens, ihrer Aufgaben und Mühen,

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Johannes Paul II. – ein staunender Bettler vor Gott

Betrachtung von Dr. Thorsten Paprotny Hl. Papst Johannes Paul II. mit dem Rosenkranz. Foto: Vatican Media Auf allen Stationen seines Lebens begegnet uns der hl. Johannes Paul II. als Beter, dem die Mystik des Schweigens und der Stille vertraut war, der die Kraft für seinen Dienst – in jungen Jahren, als Priester, Professor und Papst – aus der Anbetung schöpfte und sich durch Krankheit und Leiden hindurch immer mehr dem Herrn zu übereignen schien. Vor Augen steht mir, wie damals Pfarrer Dr. Heinrich Tukay, im letzten Jahr seines Dienstes in St. Elisabeth in Hannover, am Freitagabend, einen Tag, bevor Johannes Paul II. für immer nach Hause gehen durfte, in der heiligen Messe die Gläubigen zum Gebet für den Papst einlud und sagte, dass der Heilige Vater in den Stunden seines Leidens dem am Kreuz erhöhten Herrn ähnlicher werde. Das gläubige Volk auf der ganzen Welt und besonders in Rom rief bald „Santo subito!“ – und die ehrwürdigen Herren Kardinäle wählten am 17. April 2005 im dritten Wahlgang den Kardinaldekan Joseph Ratzinger zum Papst. Johannes Paul II. hatte im „Römischen Triptychon“ auch über Michelangelos „Vision“, wie er sagte, meditiert. Die Kardinäle versammeln sich, schauen auf die „sixtinische Malerei“ (Johannes Paul II.: Römisches Triptychon. Meditationen. Freiburg im Breisgau 2003, 36). Sie sehen das Gericht vor sich, wenn sie den nächsten Papst wählen. Johannes Paul II. schreibt poetisch von der „Transparenz der Ereignisse“ und der „Transparenz der Gewissen“. Zugleich erinnert er sich an die Konklaven des Jahres 1978, an denen er teilgenommen hatte. Erfüllt von unerschütterlichem Gottvertrauen bekräftigt er: „Vergesst nicht: Omnia nuda et aperta sunt oculos Eius. Du, der Du alles durchschaust – zeige auf jenen! Und Er wird auf ihn zeigen …“ (ebd., 37) In großer Dankbarkeit vergegenwärtigen sich bis heute Gläubige in aller Welt den kostbaren Schatz, das geistliche Vermächtnis, das Johannes Paul II. hinterlassen hat. Wir denken an sein reichhaltiges Schrifttum, auch an seine literarischen Werke. Persönlich und leise, tastend und behutsam, oft wie von innen her, lässt er den Leser teilhaben an der Weite seiner Gedanken und an den Erfahrungen einer mystisch durchformten Spiritualität. Der heilige Johannes Paul II. ist uns vor allem als ein betender Mensch gegenwärtig. Wir sehen nicht genug von ihm, wenn wir all das Lobens- und Bewundernswerte hervorheben – die Moraltheologie, die von Theologen heute kaum beachtet oder nur abweisend zitiert wird, die philosophischen Arbeiten und die vertiefte Reflexion der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils. Im Pontifikat gab Johannes Paul II. nicht nur Interviews, er schrieb auch – hochbetagt und von schwerer Krankheit gezeichnet – geistliche Meditationen. Zur Lektüre und meditativen Betrachtung laden diese Texte bis heute ein. In diesem Band spricht er vom Staunen. Wir kennen das Staunen hauptsächlich als philosophischen Affekt, als Antrieb zur Forschung – oder als Staunen eines Kindes, das sich gänzlich freut und keine Scheu kennt, diese Freude unverstellt zu zeigen. Wenn Johannes Paul II. über das Buch Genesis nachsinnt, so spricht er von der „Schwelle des Buches“ – wie gehen wir auf die Bibel, wie gehen wir auf den Schöpfungsbericht zu? Das „Wort“ aus dem Anfang sei wie eine „unsichtbare Schwelle“ – und Michelangelos „Reichtum üppiger Farben“ verdichtet sich zu einer besonderen Schau, wenn Gläubige „von Staunen zu Staunen schreitend“ die Sixtina bewundern, in einer stummen Andacht. Gewaltiger noch, so der Papst, sei „das Jüngste Gericht“: „Das ist der Weg, den wir alle gehen – ein jeder von uns.“ (ebd., 26 f.) Unser ganzes Leben hindurch können wir von diesem Schauen, von diesem Staunen nicht lassen. Die Schönheit von Michelangelos Kunst öffnet unsere Blicke und reißt uns sozusagen nach oben, lässt uns vorausschauen, worauf wir zugehen. Ganz oft in diesen poetischen Impressionen und Bildern spricht der heilige Johannes Paul II. von Schwellen. Mancher mag sich erinnert wissen an das Gesprächsbuch „Die Schwelle der Hoffnung überschreiten“, das der Papst mit Blick auf das Jahr 2000 vorgelegt hatte, um die Gläubigen und die Kirche zu ermutigen und in der Zuversicht zu bestärken, aber auch zu mahnen, den Nöten und Aufgaben der Zeit nicht auszuweichen. Im „Römischen Triptychon“ wird manchem vielleicht auch die poetische Sprache zu einer Schwelle, ja zu einem Hindernis, denn es ist eine ganz eigene Bildung und Fügung der Worte zueinander, die wir wieder und wieder meditieren und bedenken können. Johannes Paul II. war getragen von dem Vertrauen darauf, dass „kein Jahrhundert die Wahrheit verstellen“ (ebd., 29) könne. Auch wir haben in diesen sehr besonderen Zeiten heute keinen Anlass zur Furcht: Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat. Johannes Paul II. wird auch in seiner Lyrik nicht müde, über die „wundersame Vereinigung“ von Mann und Frau im „Ursakrament“ ehelichen Liebe zu sprechen und die Schönheit dieser zu zeigen. In „Vaterschaft“ und „Mutterschaft“ werde die „Schwelle zur größten Verantwortung“ (ebd., 33) überschritten. Ist es nicht schön, wenn Mann und Frau zueinander finden, einander erkennen und einander das Sakrament der Ehe spenden, um dann als Familie, als Hauskirche zu leben? Heute sprechen wir so oft von Schwellenängsten. Wovor fürchten wir uns? Der heilige Johannes Paul II. lädt dazu ein, den Blick auf das Große zu richten – und nicht auf die lästigen, lässlichen Gefechte im Alltäglichen, auf die Kleinigkeiten der provinziellen Kirchenpolitik etwa oder der törichte Streit um Vorrechte, ob in der Pfarrgemeinde, im Bistum oder anderswo. Der mystische Beter verschließt sich nicht vor der Wirklichkeit, im Gegenteil – er macht sie neu sichtbar. Diese Durchlässigkeit für Gott ist wesentlich. Wer in der Sixtinischen Kapelle von Michelangelos Vision umgeben ist, spürt die Gegenwart des Gerichts: „Doch ich sterbe nicht ganz, denn das, was in mir bleibt, bleibt unzerstörbar bestehen! … Hier wurde das unsichtbare Ende erdrückend sichtbar. Das Ende und zugleich das Höchstmaß an Transparenz – Das ist der Weg der Generationen. … Das, was unzerstörbar ist in mir, jetzt steht es Aug in Auge, vor Dem, der Ist.“ (ebd., 34 f.) Wenn wir mit Johannes Paul II., der in seinem leuchtend gläubigen, dankbar gotteskindlichen Staunen als „Bettler vor Gott“ (Augustinus) stehen, über die Wahrheit unseres Glaubens nachdenken und meditieren, so lösen sich vielleicht auch manche Verkrampfungen, manche einseitigen Betrachtungsweisen und

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