Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 15
Johannes Paul II. veröffentlicht am 1. Mai 1991 mit „Centesimus annus“ die dritte Sozialenzyklika seines Pontifikats und würdigt insbesondere Leo XIII., der die Zentralität der sozialen Frage für die katholische Kirche nachdrücklich betont hat. Gegen den herrschenden „Geist der Erneuerung“ meldete sich Leo zu Wort: „Der Papst, die Kirche und ebenso die bürgerliche Gesellschaft standen vor einer durch Konflikt gespaltenen Gesellschaft. Dieser Konflikt war um so härter und unmenschlicher als er weder Regel noch Gesetz kannte. Es war der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit oder — wie es die Enzyklika nannte — die Arbeiterfrage. Eben zu diesem Konflikt wollte der Papst in den schärfsten Worten, die ihm damals zur Verfügung standen, seine Meinung kundtun.“ Der modernistische Ungeist wirkte zu Leos Zeiten auf vielfältige Weise, nicht allein in der Theologie und im Leben der Kirche, sondern auch im sozialen Bereich. Atheistische Ideologien breiteten sich aus, der Sozialismus und der Liberalismus, ebenso wie Faschismus und Nationalsozialismus viele Jahrzehnte später. Der Auftrag der Kirche sei es, Leitlinien zur Orientierung zu bieten, sich von Irrlehren abzugrenzen, die sozialen Nöte der Menschheit ernst zu nehmen und mit der katholischen Soziallehre adäquat zu antworten. Johannes Paul II. schreibt: „In der Tat, die Verkündigung und Verbreitung der Soziallehre gehört wesentlich zum Sendungsauftrag der Glaubensverkündigung der Kirche; sie gehört zur christlichen Botschaft, weil sie deren konkrete Auswirkungen für das Leben in der Gesellschaft vor Augen stellt und damit die tägliche Arbeit und den mit ihr verbundenen Kampf für die Gerechtigkeit in das Zeugnis für Christus den Erlöser miteinbezieht. Sie bildet darüber hinaus eine Quelle der Einheit und des Friedens angesichts der Konflikte, die im wirtschaftlich-sozialen Bereich unvermeidlich auftreten. Auf diese Weise wird es möglich, die neuen Situationen zu bestehen, ohne die transzendente Würde der menschlichen Person weder bei sich selbst noch bei seinen Gegnern zu verletzen, und sie zu einer richtigen Lösung zu führen. … Jenseits aller Rechte, die der Mensch durch sein Tun und Handeln erwirbt, besitzt er Rechte, die nicht im Entgelt für seine Leistung bestehen, sondern seiner wesenhaften Würde als Person entspringen.“
Von der sozialen Frage, von der Armut vieler Menschen auch in den Wohlstandsgesellschaften, ist in der Kirche heute nur selten noch die Rede. Der Papst kritisiert zunächst sozialistische Lehren: „[Der Sozialismus] betrachtet den einzelnen Menschen lediglich als ein Instrument und Molekül des gesellschaftlichen Organismus, so daß das Wohl des einzelnen dem Ablauf des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Mechanismus völlig untergeordnet wird; gleichzeitig ist man der Meinung, daß eben dieses Wohl unabhängig von freier Entscheidung und ohne eine ganz persönliche und unübertragbare Verantwortung gegenüber dem Guten verwirklicht werden könne. Der Mensch wird auf diese Weise zu einem Bündel gesellschaftlicher Beziehungen verkürzt, es verschwindet der Begriff der Person als autonomes Subjekt moralischer Entscheidung, das gerade dadurch die gesellschaftliche Ordnung aufbaut.“ Er würdigt den Umbruch von 1989, scheut sich aber nicht, die immensen Probleme des Kapitalismus anzusprechen: „Trotz der großen Veränderungen, die in den fortgeschrittenen Gesellschaften stattgefunden haben, ist das menschliche Defizit des Kapitalismus mit der daraus sich ergebenden Herrschaft der Dinge über die Menschen keineswegs überwunden; ja, für die Armen kam zum Mangel an materiellen Gütern noch der Mangel an Wissen und Bildung hinzu, der es ihnen unmöglich macht, sich aus ihrer Lage erniedrigender Unterwerfung zu befreien.“ In diesem Sinne stellt er fest: „Man sieht daraus, wie unhaltbar die Behauptung ist, die Niederlage des sogenannten »realen Sozialismus« lasse den Kapitalismus als einziges Modell wirtschaftlicher Organisation übrig. Es gilt, die Barrieren und Monopole zu durchbrechen, die so viele Völker am Rande der Entwicklung liegenlassen.“ Unbeirrt tritt der Papst für die Menschenwürde ein und warnt zugleich prophetisch vor einem sich ausbreitenden Konsumismus: „Die Entscheidung für bestimmte Formen von Produktion und Konsum bringt immer auch eine bestimmte Kultur als Gesamtauffassung des Lebens zum Ausdruck. Hier entsteht das Phänomen des Konsumismus. Bei der Entdeckung neuer Bedürfnisse und neuer Möglichkeiten, sie zu befriedigen, muß man sich von einem Menschenbild leiten lassen, das alle Dimensionen seines Seins berücksichtigt und die materiellen und triebhaften den inneren und geistigen unterordnet. Überläßt man sich hingegen direkt seinen Trieben, unter Verkennung der Werte des persönlichen Gewissens und der Freiheit, können Konsumgewohnheiten und Lebensweisen entstehen, die objektiv unzulässig sind und nicht selten der körperlichen und geistigen Gesundheit schaden.“ Der heilige Johannes Paul II. sieht hier Zeichen einer seelischen Verwahrlosung. Menschen folgen dem Lustgewinn, leben triebbestimmt und entfremden sich von Gott. Das Böse dringt in neue Räume ein und findet neue Wege: „Ein augenfälliges Beispiel künstlichen Konsums, der sich gegen die Gesundheit und gegen die Würde des Menschen richtet und sich gewiß nicht leicht unter Kontrolle bringen läßt, ist die Droge. Ihre Ausbreitung ist Anzeichen einer ernsten Funktionsstörung des Gesellschaftssystems und schließt gleichfalls eine materialistische und in einem gewissen Sinn destruktive »Lesart« der menschlichen Bedürfnisse ein. … Die Droge wie auch die Pornographie und andere Konsumismusformen versuchen die entstandene geistige Leere auszufüllen, indem sie sich die Anfälligkeit der Schwachen zunutze machen.“ Man könnte denken, dass Johannes Paul II. hier ganz besonders gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick nimmt, die dazu führen, dass Menschen sich von einem Luststreben okkupieren lassen, so dass sie sich auch erschreckend enthusiastisch in die Fesseln der Sünde hineinbegeben, von dem Irrtum geleitet, auf diese Weise besonders frei zu sein. Sie lassen sich gehen, verstricken sich aber nur immer tiefer hinein in die Abgründe der Sünde und auch der sozialen Not. Getrieben von der Sucht, sich zu befriedigen, bleiben sie unausweichlich unbefriedigt, ja verelenden in vielerlei Hinsicht, geistig, geistlich und materiell. Ein Gegenmodell zu den Versuchungen der Welt und ein Hort sozialer Stabilität ist die Familie. Johannes Paul II. bekennt sich auch darum zur christlichen Familie: „Die erste und grundlegende Struktur zu Gunsten der »Humanökologie« ist die Familie, in deren Schoß der Mensch die entscheidenden Anfangsgründe über die Wahrheit und das Gute empfängt, wo er lernt, was lieben und geliebt werden heißt und was es konkret besagt, Person zu sein. Hier ist die auf die Ehe gegründete Familie gemeint, wo die gegenseitige Hingabe von Mann und Frau eine Lebensatmosphäre schafft, in der das Kind geboren werden und seine Fähigkeiten entfalten kann. Wo es sich seiner Würde bewußt wird und sich auf die Auseinandersetzung mit seinem einmaligen und unwiederholbaren Schicksal vorbereiten kann. … Die Familie muß wieder als das Heiligtum des Lebens angesehen werden. Sie ist in der Tat heilig: Sie ist der Ort, an dem das Leben, Gabe Gottes, in angemessener Weise angenommen und gegen die vielfältigen Angriffe, denen es ausgesetzt ist, geschützt wird und wo es sich entsprechend den Forderungen eines echten menschlichen Wachstums entfalten kann. Gegen die sogenannte Kultur des Todes stellt die Familie den Sitz der Kultur des Lebens dar.“ Der Schutz der Familie hat viele Dimensionen. Heute müssen wir, mit dem heiligen Johannes Paul II., auch in der Kirche daran erinnern, dass die Familie – gemäß dem Naturrecht und geordnet nach der Lehre der Kirche – des Schutzes des Staates bedarf. Zugleich darf nicht verkannt werden, dass die Pastoraltheologie nicht zu existenzialistischer Selbstverwirklichung anstiften darf, sondern dem modernistischen Ungeist des Subjektivismus in Staat, Kirche und Gesellschaft entgegentreten soll: „Um die heute verbreitete individualistische Denkweise zu überwinden, braucht es ein konkretes Bemühen um Solidarität und Liebe, das in der Familie beginnt mit dem Rückhalt, den die Eheleute einander geben, und dann mit der Sorge der Generationen füreinander.“ So wie Leo XIII. widerspricht auch der hl. Johannes Paul II. einem jeden „Geist der Erneuerung“, der von Gott und der Kirche des Herrn wegführt.
Quelle: CNA Deutsch, 08. Mai, 2021
Autor: Dr. Thorsten Paprotny