Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 24
Am 25. März 1995 legte der hl. Johannes Paul II. die Enzyklika „Evangelium vitae“ vor – ein Bekenntnis, ja ein Manifest des Lebensschutzes. Der Papst erinnert daran, dass die Würde des Menschen unantastbar ist – vom Augenblick der Empfängnis bis in die Sterbestunde hinein. Ebenso verweist er auf die Unterscheidung von Gut und Böse. Selbstverständlich aus katholischer Sicht ist das scharfe Urteil über die Abtreibung, ebenso selbstverständlich ist der kategorische Ausschluss der Beihilfe zum assistierten Suizid, also der Sterbehilfe. Ist das heute – selbst unter Katholiken – noch selbstverständlich? Treten wir, ob gelegen oder ungelegen, für den Schutz des Lebens ein? Johannes Paul II. schreibt: „Das Evangelium vom Leben liegt der Botschaft Jesu am Herzen. Von der Kirche jeden Tag liebevoll aufgenommen soll es mit beherzter Treue als Frohe Botschaft allen Menschen jeden Zeitalters und jeder Kultur verkündet werden.“ Eine wahrhaft „messianische Freude“ verbinde sich mit der „Erfüllung der Freude über jedes Kind, das geboren wird“.
Worin liegt die Berufung des Menschen? Johannes Paul II. spricht nicht von weltlicher Karriere, nicht von der Gefolgschaft gegenüber einer Agenda des Kommunismus, Kapitalismus oder Konsumismus. Ebenso wenig verweist er auf die existenzialistische Selbstverwirklichung von Plänen, Projekten und Wünschen: „Der Mensch ist zu einer Lebensfülle berufen, die weit über die Dimensionen seiner irdischen Existenz hinausgeht, da sie in der Teilhabe am Leben Gottes selber besteht. Die Erhabenheit dieser übernatürlichen Berufung enthüllt die Größe und Kostbarkeit des menschlichen Lebens auch in seinem zeitlich-irdischen Stadium. Denn das Leben in der Zeit ist Grundvoraussetzung, Einstiegsmoment und integrierender Bestandteil des gesamten einheitlichen Lebensprozesses des menschlichen Seins.“ Das Leben, das uns geschenkt ist, weist über die Wirklichkeit dieser Welt hinaus. Mann und Frau sind gerufen, das Leben, das ihnen geschenkt ist, zu lieben, im Bewusstsein darum, dass die Vollendung nicht auf Erden besteht, bestehen kann: „In Wahrheit ist es nicht »letzte«, sondern »vorletzte« Wirklichkeit; es ist also heilige Wirklichkeit, die uns anvertraut wird, damit wir sie mit Verantwortungsgefühl hüten und in der Liebe und Selbsthingabe an Gott sowie an die Schwestern und Brüder zur Vollendung bringen.“
Johannes Paul II. spricht vom Naturgesetz, das dem Menschen „ins Herz geschrieben“ sei, so dass er den „heiligen Wert des menschlichen Lebens vom ersten Augenblick bis zu seinem Ende“ erkennen und bejahen könne. Ist uns diese Heiligkeit bewusst? Wer Sterbende begleitet in ihrem oft so langen und schmerzvollen Abschied von der Welt, mag sich vielleicht an liebe Angehörige erinnern, die nach schwerem Leid doch von einem großen Frieden in den letzten Augenblicken ihres Lebens gezeichnet waren. Die Momente, in denen wir nichts mehr tun können, als an der Seite der Sterbenden zu sein, sind kostbare Geschenke – wir spüren und erfahren die Heiligkeit des Lebens aus nächster Nähe. Wer Babys sieht oder das Glück hatte, die Geburtsstunde zu erleben, erinnert sich vielleicht an die eigenen Tränen und die Dankbarkeit für diesen Moment, an dem er teilhaben durfte. Mütter berichten immer wieder von der Schönheit der Schwangerschaft und von dem Glücksmoment, als sie das erste Mal die zarte Stimme ihres Nachwuchses hörten. Dieser „heilige Wert des menschlichen Lebens“ ist gegenwärtig, sichtbar und spürbar. Wir sind berufen, die Heiligkeit des Lebens zu achten, zu ehren und zu schützen. Johannes Paul II. spricht davon, dass das Recht jedes Menschen auf Leben „in höchstem Maße geachtet“ werden müsse: „Auf der Anerkennung dieses Rechtes beruht das menschliche Zusammenleben und das politische Gemeinwesen.“ Schmerzhaft bewusst wird Christen aller Konfessionen, die sich für den Lebensschutz einsetzen, dass eine neue Aufgeschlossenheit für Abtreibung und assistierten Suizid, also Sterbehilfe, zu bestehen scheint. Der heilige Papst widerspricht all dem und verweist energisch darauf, dass der Lebensschutz untrennbar mit der Frohen Botschaft verknüpft ist: „Das Evangelium von der Liebe Gottes zum Menschen, das Evangelium von der Würde der Person und das Evangelium vom Leben sind ein einziges, unteilbares Evangelium.“ Er macht auf ein „beunruhigendes Panorama“ aufmerksam – „mit den neuen, vom wissenschaftlich-technologischen Fortschritt eröffneten Perspektiven entstehen neue Formen von Anschlägen auf die Würde des Menschen, während sich eine neue kulturelle Situation abzeichnet und verfestigt, die den Verbrechen gegen das Leben einen bisher unbekannten und womöglich noch widerwärtigeren Aspekt verleiht und neue ernste Sorgen auslöst: breite Schichten der öffentlichen Meinung rechtfertigen manche Verbrechen gegen das Leben im Namen der Rechte der individuellen Freiheit und beanspruchen unter diesem Vorwand nicht nur Straffreiheit für derartige Verbrechen, sondern sogar die Genehmigung des Staates, sie in absoluter Freiheit und unter kostenloser Beteiligung des staatlichen Gesundheitswesens durchzuführen“. Was einst als „verbrecherisch“ angesehen worden sei, werde nunmehr „gesellschaftlich als achtbar betrachtet“. Johannes Paul II. diagnostiziert einen „schweren moralischen Verfall“: „Das Ergebnis, zu dem man gelangt, ist dramatisch: so schwerwiegend und beunruhigend das Phänomen der Beseitigung so vieler menschlicher Leben vor der Geburt oder auf dem Weg zum Tod auch sein mag, so ist die Tatsache nicht weniger schwerwiegend und beunruhigend, daß selbst das Gewissen, als wäre es von so weitreichenden Konditionierungen verfinstert, immer träger darin wird, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse wahrzunehmen im Hinblick auf den fundamentalen Wert des menschlichen Lebens.“ Die Kirche, damit auch Sie und ich, sind berufen, für das Leben jedes Menschen einzustehen und den Versuchungen wie Verlockungen des tückischen, diabolischen Zeitgeistes zu widerstehen. Die Würde des Menschen ist unantastbar, von der Empfängnis bis in die Sterbestunde hinein.
Quelle: CNA Deutsch, 10. July, 2021
Autor: Dr. Thorsten Paprotny