Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 2
Von Ängsten, Sorgen und Nöten ist das menschliche Dasein bestimmt. Ein Baby sehnt sich nach der liebevollen Zuwendung seiner Mutter und wird erst ruhig, wenn es in ihren Armen geborgen liegt und wenn ihr liebender Blick auf ihm ruht. Doch Ängste bleiben. So manches Kind begibt sich bekümmert und traurig auf den Weg zur Schule, weil es dort die Feindseligkeit dieser Welt in vielerlei Gestalt fürchtet und nichts sehnlicher hofft, als schadlos heimkehren zu dürfen.
Für viele Kinder heute ist auch die eigene Familie ein trostloses Obdach, zerrissen von Streit und Entzweiung. Später machen viele junge und ältere Menschen bittere Erfahrungen, persönlich oder im Berufsleben. Unverschuldet entstehen belastende Situationen, in armen Ländern und in materiell reichen Gesellschaften. Wer an die säkulare Ideologie der Selbstverwirklichung glaubt und zu hören bekommt: „Du hast aus deinem Leben ja nichts Vernünftiges gemacht, du bist doch selbst schuld.“ – der kann nur traurig werden und verzweifeln, in einer bunt illuminierten, lieblosen Welt.
Der heilige Johannes Paul II. hat in der ersten Enzyklika „Redemptor hominis„ das Geheimnis der Erlösung beschrieben: „Der Mensch kann nicht ohne Liebe leben. Er bleibt für sich selbst ein unbegreifliches Wesen; sein Leben ist ohne Sinn, wenn ihm nicht die Liebe geoffenbart wird, wenn er nicht der Liebe begegnet, wenn er sie nicht erfährt und sich zu eigen macht, wenn er nicht lebendigen Anteil an ihr erhält. Und eben darum macht Christus, der Erlöser, wie schon gesagt, dem Menschen den Menschen selbst voll kund. … Im Geheimnis der Erlösung wird der Mensch »neu bestätigt« und in gewisser Weise neu geschaffen. Er ist neu erschaffen! … Der Mensch, der sich selbst bis in die Tiefe verstehen will – nicht nur nach unmittelbar zugänglichen, partiellen, oft oberflächlichen und sogar nur scheinbaren Kriterien und Maßstäben des eigenen Seins –, muß sich mit seiner Unruhe, Unsicherheit und auch mit seiner Schwäche und Sündigkeit, mit seinem Leben und Tode Christus nahen. Er muß sozusagen mit seinem ganzen Selbst in ihn eintreten, muß sich die ganze Wirklichkeit der Menschwerdung und der Erlösung »aneignen« und assimilieren, um sich selbst zu finden.“ So gelangt er zur Anbetung und beginnt über sich selbst zu staunen: Der Mensch entdeckt sich als Gottes geliebtes Kind. Er möchte lieben und geliebt sein. Von dem Staunen spricht der Papst, das den Gläubigen erfüllt, wenn er die Schönheit der Würde des Menschen – auch seiner selbst – entdeckt, von der Empfängnis bis in die Stunde des Todes hinein.
Darum ist die Kirche berufen und beauftragt, für den Lebensschutz einzustehen und sich nicht mit den Philosophien, Ideologien und politischen Mächten dieser Welt verständnisinnig gemein zu machen: „Die Kirche, die nicht aufhört, das Geheimnis Christi in seiner Gesamtheit zu betrachten, weiß mit voller Glaubensgewißheit, daß die Erlösung, die durch das Kreuz erfolgt ist, dem Menschen endgültig seine Würde und den Sinn seiner Existenz in der Welt zurückgegeben hat, den Sinn, den er in beachtlichem Maße durch die Sünde verloren hatte. Deshalb hat die Erlösung sich im Ostergeheimnis vollendet, das durch das Kreuz und den Tod zur Auferstehung führt.“ Die Kirche, so erinnert Johannes Paul II., ist dazu bestellt, Christus zu verkündigen – und gerade heute, so scheint es, muss im Zeitalter des Relativismus, dessen dämonische Macht auch in den Raum der Kirche eingezogen ist, ihr wahrer Auftrag neu sichtbar werden.
Das Evangelium muss verkündet werden, beherzt, mit Leidenschaft und Freude. Wenn in der Kirche nicht von Gott die Rede ist, dann verleugnet sie ihre Bestimmung: „Jeder Mensch soll Christus finden können, damit Christus jeden einzelnen auf seinem Lebensweg begleiten kann mit jener kraftvollen Wahrheit über den Menschen und die Welt, wie sie im Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung enthalten ist, mit der Macht jener Liebe, die hiervon ausstrahlt. … Jesus Christus ist der Hauptweg der Kirche. Er selbst ist unser Weg zum Haus des Vaters und ist auch der Zugang zu jedem Menschen. Auf dieser Straße, die von Christus zum Menschen führt, auf der Christus jedem Menschen zur Seite tritt, darf die Kirche sich von niemandem aufhalten lassen. Das fordert das zeitliche wie auch das ewige Heil des Menschen.“ Von Christus her gewinnt die Kirche ihre Orientierung. Es geht, so Johannes Paul II., nicht um Abstraktionen, nicht um Ideen des Menschseins und nicht um irgendwelche Fantasien scheinbar pastoraler Gestaltung: „Jeder Mensch, der im Mutterschoß empfangen und von seiner Mutter in diese Welt hineingeboren wird, ist gerade wegen dieses Erlösungswerkes der Obhut der Kirche anvertraut.“ Das gilt vom Beginn des Lebens, „vom ersten Moment an, da er unter dem Herzen der Mutter empfangen wird“.
Leidenschaftlich schreibt Johannes Paul II., dass die Kirche nicht am Menschen vorbeigehen dürfe, das heißt also – sie ist nicht dazu bestellt, den Menschen in seinen Irrtümern zu bestätigen, sondern ihm den Weg der Heiligkeit zu zeigen, ihn in Wahrheit und Liebe zu begleiten: „Der Mensch in seiner Einmaligkeit – weil er »Person« ist – hat seine eigene Lebensgeschichte und vor allem eine eigene Geschichte seiner Seele. … Dieser Mensch ist der erste und grundlegende Weg der Kirche, ein Weg, der von Christus selbst vorgezeichnet ist und unabänderlich durch das Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung führt.“ Die „fortwährende Neigung zur Sünde“ bestehe in ihm ebenso wie der „ständige Durst nach Wahrheit, nach dem Guten und Schönen“: „Als schwacher Mensch und Sünder tut er oft das, was er nicht will, und was er tun wollte, tut er nicht. So leidet er an einer inneren Zwiespältigkeit, und daraus entstehen viele und schwere Zerwürfnisse auch in der Gesellschaft«.“
Wir wissen, dass heute selbst in der Kirche oft der Begriff und die Wirklichkeit der Sünde geleugnet werden. Wer den Begriff tilgt, tilgt aber nicht die Wirklichkeit der Sünde. Johannes Paul II. fordert eine Klarheit, die die wahre Aufklärung und die Botschaft der Erlösung in ihrer ganzen Schönheit bewusst macht. Der Mensch ist der „Weg der Kirche“: „Da also der Mensch der Weg der Kirche ist, der Weg ihres täglichen Lebens und Erlebens, ihrer Aufgaben und Mühen, muß sich die Kirche unserer Zeit immer wieder neu die »Situation« des Menschen bewußt machen. Sie muß seine Möglichkeiten kennen, die eine immer neue Richtung nehmen und so zu Tage treten; zugleich aber muß die Kirche die Bedrohungen kennen, die über dem Menschen hängen.“
Johannes Paul II. spricht von der Bedrohung des Bösen und fragt, ob in der Moderne, im Zeitalter des technischen Fortschritts, nicht die „Egoismen verschiedener Art“ und die „übertriebenen Nationalismen“ zunehmen würden. Er beklagt die Umweltzerstörung. Wie oft sei der Mensch der Natur entfremdet. Von Ängsten sind viele Menschen in der Welt heute okkupiert. Sie leben haltlos, in den Wüsten einer oft geistlich ausgedorrten Zeit, in der von Erfolg und Selbstverwirklichung gesprochen wird, die Seele aber verwahrlost. Die Ängste nehmen also zu. Darum lehrt der heilige Papst: „Die Kirche, die aus einem eschatologischen Glauben lebt, betrachtet diese Besorgnis des Menschen um seine Menschlichkeit, um die Zukunft der Menschen auf Erden und damit auch um die Richtung von Entwicklung und Fortschritt als ein wesentliches Element ihrer Sendung, das hiervon nicht getrennt werden darf. Den Kern dieser Sorge findet die Kirche in Jesus Christus selbst, wie die Evangelien bezeugen. Gerade darum möchte sie dieses Engagement aus der Einheit mit ihm verstärken, indem sie die Situation des Menschen in der heutigen Welt nach den wichtigsten Zeichen unserer Zeit interpretiert.“
Johannes Paul II. erweist sich gerade hier als Theologe des Zweiten Vatikanischen Konzils. Es gilt, die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums zu deuten – und nicht umgekehrt. Wenn die Kirche den Versuchungen der Welt erliegt und sich dem Zeitgeist anpasst, verrät sie ihre Sendung. Johannes Paul II. ermutigt dazu, ganz auf den Herrn zu vertrauen und ihm nachzufolgen: Die Kirche lehrt und bekennt, dass Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben für jeden einzelnen Menschen ist. So kündet die Kirche des Herrn von der Schönheit des Glauben.
Quelle: CNA Deutsch, 6. Februar, 2021
Autor: Dr. Thorsten Paprotny