Wider alle Ideologien: die katholische Soziallehre

Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 12
Papst St. Johannes Paul II. auf dem Petersplatz: Die Aufnahme entstand um das Jahr 1978. Foto: LOR / Vatican Media / Archiv

Wesentlich für den christlichen Glauben ist die Berücksichtigung der sozialen Frage. In Deutschland stehen beispielhaft dafür auch die großen Verbände, etwa das Kolping-Werk und die KAB, die Katholische Arbeitnehmerbewegung, die indessen heute weniger prägend in den Pfarrgemeinden sind als noch zu der Zeit, als der heilige Johannes Paul II. die Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ publizierte, nämlich am 30. Dezember 1987. 

Dem Papst war es, wie seinen Vorgängern auf dem Stuhl Petri, ein ernstes und wichtiges Anliegen, die Würde des Menschen zu betonen und die weltweite Bedeutung der katholischen Soziallehre zu bekräftigen – gegen alle Ideologien. Gleichzeitig warnte er vor einem blinden Vertrauen auf die Dynamik des ökonomischen Wachstums und weitete den Blick auf die ganze Welt. Die Ausbeutung Afrikas auch durch Kolonialmächte etwa durfte nicht vergessen werden. In gleicher Weise haben vermeintliche Fortschrittsbewegungen – der Kommunismus wie der Kapitalismus – zu ideologischen Herrschaftssystemen und zu materiellen Reichtümern geführt und Menschen auf der ganzen Welt verelenden lassen. Der Wohlstand vieler Gesellschaften in Westeuropa und Nordamerika ging mit der Verelendung andernorts einher. 

Johannes Paul II. erinnert an die einheitsstiftende Aufgabe des christlichen Glaubens: „Während der Glaube an Christus, den Erlöser, das Wesen der Entwicklung von innen her erhellt, weist er uns auch den Weg bei der Aufgabe der Zusammenarbeit.“ Er wirbt für ein neues Verständnis von Entwicklung und Fortschritt: „Heute erkennt man vielleicht mehr als früher und mit größerer Klarheit den inneren Widerspruch einer Entwicklung, die allein auf die wirtschaftliche Seite beschränkt bleibt. Eine solche ordnet die menschliche Person und ihre tieferen Bedürfnisse allzu leicht den Erfordernissen der wirtschaftlichen Planung oder des alleinigen Profits unter. Die innere Verbindung zwischen wahrer Entwicklung und Achtung der Menschenrechte offenbart noch einmal deren moralischen Charakter. Die wahre Förderung des Menschen, die im Einklang mit der wesentlichen und geschichtlichen Berufung jedes einzelnen steht, erreicht man nicht, indem man nur ein Übermaß an Gütern und Dienstleistungen nutzt oder über perfekte Infrastrukturen verfügt.“ Mit besonderer Deutlichkeit benennt der Papst auch erstmals die ökologische Dimension. Er warnt energisch vor dem Raubbau an der Natur. Niemand dürfe „ungestraft von den verschiedenen lebenden oder leblosen Geschöpfen“ bloß „nach eigenem Gutdünken und entsprechend den eigenen wirtschaftlichen Erfordernissen Gebrauch machen“. Er stellt fest: „Im Gegenteil, man muß der Natur eines jeden Wesens und seiner Wechselbeziehung in einem geordneten System wie dem Kosmos Rechnung tragen.“  Die natürlichen Ressourcen gelte es zu achten und die „Verschmutzung der Umwelt“ zu vermeiden. Johannes Paul II. weist auf die moralische Dimension des menschlichen Verhaltens hin: „Die vom Schöpfer dem Menschen anvertraute Herrschaft ist keine absolute Macht noch kann man von der Freiheit sprechen, sie zu »gebrauchen oder zu mißbrauchen« oder über die Dinge zu verfügen, wie es beliebt. Die Beschränkung, die der Schöpfer selber von Anfang an auferlegt hat, ist symbolisch in dem Verbot enthalten, »von der Frucht des Baumes zu essen« (vgl. Gen 2, 16-17); sie zeigt mit genügender Klarheit, daß wir im Hinblick auf die sichtbare Natur nicht nur biologischen, sondern auch moralischen Gesetzen unterworfen sind, die man nicht ungestraft übertreten darf.“ Damit kritisiert er auch das imperialistische Gebaren sowie die schändlichen Taten, die beim Raubbau an natürlichen Ressourcen in der sog. Dritten Welt stattfinden. Ebenso lässt sich beispielsweise an die perfiden Formen von Großwildjagden in Afrika denken. Der Mensch, der sich feindselig gegenüber seinen Mitgeschöpfen und gegenüber der Natur verhält, verstößt gegen den biblischen Auftrag, für die Bewahrung der Schöpfung einzutreten.  

Bemerkenswerterweise nimmt der heilige Johannes Paul II. die Rede von „Strukturen der Sünde“ auf. Es gebe eine „doppelt sündhafte Haltung“, von „Einzelpersonen“ und von „Nationen und Blöcken“: „Wenn man gewisse Formen eines modernen »Imperialismus« im Licht dieser moralischen Kriterien betrachten würde, könnte man entdecken, daß sich hinter bestimmten Entscheidungen, die scheinbar nur von Wirtschaft oder Politik getragen sind, wahrhafte Formen von Götzendienst verbergen: gegenüber Geld, Ideologie, Klasse oder Technologie. Mit dieser Analyse wollte ich vor allem die wahre Natur des Bösen aufzeigen, mit der wir es bei der Frage der Entwicklung der Völker zu tun haben: Es handelt sich um ein moralisches Übel, die Frucht vieler Sünden, die zu »Strukturen der Sünde« führen. Das Böse so zu erkennen bedeutet, auf der Ebene menschlichen Verhaltens den Weg genau anzugeben, den man gehen muß, um es zu überwinden.“

Ungeschmeidig spricht Johannes Paul II. auch mit Blick auf Ökonomie und Ideologie von der Macht des Bösen, von Götzendienst. Das hat ihm damals auch viel Kritik im Westen eingetragen. Doch er blieb unbeirrt und unbeeindruckt. Der Papst fordert Solidarität, ebenso auch die Anerkennung des Naturschutzes und grenzt die katholische Soziallehre von Kommunismus wie Kapitalismus ab: „Die kirchliche Soziallehre ist kein »dritter Weg« zwischen liberalistischem Kapitalismus und marxistischem Kollektivismus und auch keine mögliche Alternative zu anderen, weniger weit voneinander entfernten Lösungen: Sie ist vielmehr etwas Eigenständiges. Sie ist auch keine Ideologie, sondern die genaue Formulierung der Ergebnisse einer sorgfältigen Reflexion über die komplexen Wirklichkeiten menschlicher Existenz in der Gesellschaft und auf internationaler Ebene, und dies im Licht des Glaubens und der kirchlichen Überlieferung. Ihr Hauptziel ist es, solche Wirklichkeiten zu deuten, wobei sie prüft, ob diese mit den Grundlinien der Lehre des Evangeliums über den Menschen und seine irdische und zugleich transzendente Berufung übereinstimmen oder nicht, um daraufhin dem Verhalten der Christen eine Orientierung zu geben. Sie gehört daher nicht in den Bereich der Ideologie, sondern der Theologie, insbesondere der Moraltheologie.“ 

Heute – im Jahr 2021 – scheint sich die Moraltheologie im eigentlichen Sinne nahezu aufgelöst zu haben. Welche Theologen treten heute noch wortmächtig für die katholische Soziallehre ein? Der heilige Johannes Paul II. ruft im Marianischen Jahr 1987 die Gottesmutter an: „Wie die christliche Frömmigkeit es immer getan hat, empfehlen wir der Allerseligsten Jungfrau die schwierigen Situationen der einzelnen, damit sie diese ihrem Sohne vorlege und von ihm erreiche, daß sie erleichtert und verändert werden. Aber ebenso unterbreiten wir ihr auch die gesellschaftlichen Situationen und die internationale Krise selbst mit ihren beunruhigenden Aspekten von Elend, Arbeitslosigkeit, Ernährungsmangel, Rüstungswettlauf, Mißachtung der Menschenrechte, Situationen oder Gefahren von begrenzten oder totalen Konflikten. All dies wollen wir mit kindlichem Vertrauen vor ihre »barmherzigen Augen« stellen, wobei wir noch einmal in Glaube und Hoffnung die alte marianische Antiphon beten: »Heilige Gottesmutter, verschmähe nicht unser Gebet in unseren Nöten, sondern errette uns jederzeit aus allen Gefahren, o du glorwürdige und gebenedeite Jungfrau«.“

 

Quelle: CNA Deutsch, 17. April, 2021 

Autor: Dr. Thorsten Paprotny

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