Johannes Paul II. – ein staunender Bettler vor Gott

Betrachtung von Dr. Thorsten Paprotny
Hl. Papst Johannes Paul II. mit dem Rosenkranz. Foto: Vatican Media
Auf allen Stationen seines Lebens begegnet uns der hl. Johannes Paul II. als Beter, dem die Mystik des Schweigens und der Stille vertraut war, der die Kraft für seinen Dienst – in jungen Jahren, als Priester, Professor und Papst – aus der Anbetung schöpfte und sich durch Krankheit und Leiden hindurch immer mehr dem Herrn zu übereignen schien.

Vor Augen steht mir, wie damals Pfarrer Dr. Heinrich Tukay, im letzten Jahr seines Dienstes in St. Elisabeth in Hannover, am Freitagabend, einen Tag, bevor Johannes Paul II. für immer nach Hause gehen durfte, in der heiligen Messe die Gläubigen zum Gebet für den Papst einlud und sagte, dass der Heilige Vater in den Stunden seines Leidens dem am Kreuz erhöhten Herrn ähnlicher werde.

Das gläubige Volk auf der ganzen Welt und besonders in Rom rief bald „Santo subito!“ – und die ehrwürdigen Herren Kardinäle wählten am 17. April 2005 im dritten Wahlgang den Kardinaldekan Joseph Ratzinger zum Papst. Johannes Paul II. hatte im „Römischen Triptychon“ auch über Michelangelos „Vision“, wie er sagte, meditiert. Die Kardinäle versammeln sich, schauen auf die „sixtinische Malerei“ (Johannes Paul II.: Römisches Triptychon. Meditationen. Freiburg im Breisgau 2003, 36). Sie sehen das Gericht vor sich, wenn sie den nächsten Papst wählen. Johannes Paul II. schreibt poetisch von der „Transparenz der Ereignisse“ und der „Transparenz der Gewissen“. Zugleich erinnert er sich an die Konklaven des Jahres 1978, an denen er teilgenommen hatte. Erfüllt von unerschütterlichem Gottvertrauen bekräftigt er:

„Vergesst nicht: Omnia nuda et aperta sunt oculos Eius.
Du, der Du alles durchschaust – zeige auf jenen!
Und Er wird auf ihn zeigen …“ (ebd., 37)

In großer Dankbarkeit vergegenwärtigen sich bis heute Gläubige in aller Welt den kostbaren Schatz, das geistliche Vermächtnis, das Johannes Paul II. hinterlassen hat. Wir denken an sein reichhaltiges Schrifttum, auch an seine literarischen Werke. Persönlich und leise, tastend und behutsam, oft wie von innen her, lässt er den Leser teilhaben an der Weite seiner Gedanken und an den Erfahrungen einer mystisch durchformten Spiritualität. Der heilige Johannes Paul II. ist uns vor allem als ein betender Mensch gegenwärtig.

Wir sehen nicht genug von ihm, wenn wir all das Lobens- und Bewundernswerte hervorheben – die Moraltheologie, die von Theologen heute kaum beachtet oder nur abweisend zitiert wird, die philosophischen Arbeiten und die vertiefte Reflexion der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils. Im Pontifikat gab Johannes Paul II. nicht nur Interviews, er schrieb auch – hochbetagt und von schwerer Krankheit gezeichnet – geistliche Meditationen. Zur Lektüre und meditativen Betrachtung laden diese Texte bis heute ein. In diesem Band spricht er vom Staunen. Wir kennen das Staunen hauptsächlich als philosophischen Affekt, als Antrieb zur Forschung – oder als Staunen eines Kindes, das sich gänzlich freut und keine Scheu kennt, diese Freude unverstellt zu zeigen. Wenn Johannes Paul II. über das Buch Genesis nachsinnt, so spricht er von der „Schwelle des Buches“ – wie gehen wir auf die Bibel, wie gehen wir auf den Schöpfungsbericht zu? Das „Wort“ aus dem Anfang sei wie eine „unsichtbare Schwelle“ – und Michelangelos „Reichtum üppiger Farben“ verdichtet sich zu einer besonderen Schau, wenn Gläubige „von Staunen zu Staunen schreitend“ die Sixtina bewundern, in einer stummen Andacht. Gewaltiger noch, so der Papst, sei „das Jüngste Gericht“: „Das ist der Weg, den wir alle gehen – ein jeder von uns.“ (ebd., 26 f.) Unser ganzes Leben hindurch können wir von diesem Schauen, von diesem Staunen nicht lassen. Die Schönheit von Michelangelos Kunst öffnet unsere Blicke und reißt uns sozusagen nach oben, lässt uns vorausschauen, worauf wir zugehen. Ganz oft in diesen poetischen Impressionen und Bildern spricht der heilige Johannes Paul II. von Schwellen. Mancher mag sich erinnert wissen an das Gesprächsbuch „Die Schwelle der Hoffnung überschreiten“, das der Papst mit Blick auf das Jahr 2000 vorgelegt hatte, um die Gläubigen und die Kirche zu ermutigen und in der Zuversicht zu bestärken, aber auch zu mahnen, den Nöten und Aufgaben der Zeit nicht auszuweichen. Im „Römischen Triptychon“ wird manchem vielleicht auch die poetische Sprache zu einer Schwelle, ja zu einem Hindernis, denn es ist eine ganz eigene Bildung und Fügung der Worte zueinander, die wir wieder und wieder meditieren und bedenken können. Johannes Paul II. war getragen von dem Vertrauen darauf, dass „kein Jahrhundert die Wahrheit verstellen“ (ebd., 29) könne. Auch wir haben in diesen sehr besonderen Zeiten heute keinen Anlass zur Furcht: Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat.

Johannes Paul II. wird auch in seiner Lyrik nicht müde, über die „wundersame Vereinigung“ von Mann und Frau im „Ursakrament“ ehelichen Liebe zu sprechen und die Schönheit dieser zu zeigen. In „Vaterschaft“ und „Mutterschaft“ werde die „Schwelle zur größten Verantwortung“ (ebd., 33) überschritten. Ist es nicht schön, wenn Mann und Frau zueinander finden, einander erkennen und einander das Sakrament der Ehe spenden, um dann als Familie, als Hauskirche zu leben? Heute sprechen wir so oft von Schwellenängsten. Wovor fürchten wir uns? Der heilige Johannes Paul II. lädt dazu ein, den Blick auf das Große zu richten – und nicht auf die lästigen, lässlichen Gefechte im Alltäglichen, auf die Kleinigkeiten der provinziellen Kirchenpolitik etwa oder der törichte Streit um Vorrechte, ob in der Pfarrgemeinde, im Bistum oder anderswo. Der mystische Beter verschließt sich nicht vor der Wirklichkeit, im Gegenteil – er macht sie neu sichtbar. Diese Durchlässigkeit für Gott ist wesentlich. Wer in der Sixtinischen Kapelle von Michelangelos Vision umgeben ist, spürt die Gegenwart des Gerichts:

„Doch ich sterbe nicht ganz,
denn das, was in mir bleibt, bleibt unzerstörbar bestehen!

Hier wurde das unsichtbare Ende erdrückend sichtbar.
Das Ende und zugleich das Höchstmaß an Transparenz –
Das ist der Weg der Generationen.

Das, was unzerstörbar ist in mir,
jetzt steht es Aug in Auge, vor Dem, der Ist.“ (ebd., 34 f.)

Wenn wir mit Johannes Paul II., der in seinem leuchtend gläubigen, dankbar gotteskindlichen Staunen als „Bettler vor Gott“ (Augustinus) stehen, über die Wahrheit unseres Glaubens nachdenken und meditieren, so lösen sich vielleicht auch manche Verkrampfungen, manche einseitigen Betrachtungsweisen und mancher eigenbrötlerische Starrsinn. Der große Heilige lädt zum Staunen und zum Sehen ein – und ermutigt dazu, durchlässig zu werden für Gott und sein Licht in dieser Welt zu bezeugen. Kennen Sie die Schwelle, an der wir stehen? Eine Schwelle ist mir stets gegenwärtig: Sind wir bereit uns zum Glauben zu bekennen, uns öffentlich als Christ zu zeigen, in Werken der Barmherzigkeit und in unverbrüchlicher Treue zu Gott und seiner Kirche? Der Beistand und auch die Werke des heiligen Johannes Pauls II. helfen uns. Er zeigt uns Gottes große Weite – in seinen Gedichten, in seinen theologischen und philosophischen Texten und in seinen Enzykliken. Am 30. Januar 2021 beginnt darum auf CNA Deutsch eine Reihe mit geistlichen Betrachtungen zu den Lehrschreiben dieses großen Papstes.

Quelle: CNA Deutsch, 6 January, 2021 

Autor: Dr. Thorsten Paprotny

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen