Die gegenwärtige Kulturkrise ist eine riesige kulturgschichtliche Forderung nach einer weisen Rückkehr zum gemeinsamen historischen Erbe. Die Renaissance, auf die wir alle warten, kann nur als neues Denken verwirklicht werden. Man muss also die klassische Auffassung des Menschen und der Welt neu verstehen. Es ist unverkennbar, dass in diesem Zusammenhang das Erbe vom hl. Papst Johannes Paul II. einen großen kulturbildenden Wert hat. Karol Wojtyła hat uns also ein riesiges Material zum Nachdenken hinterlassen. In seiner Spiritualität und in seinem Denken sehen wir die Kunst, Tradition und Neues in Einklang zu bringen, also wie im Evangelium (Mt 13,52), wo der Gelehrte von Jesus gelobt wird. Das Erbe von Papst Johannes Paul II. ist eine reichhaltige, vielseitige und kreative Synthese von vielen menschlichen Denkweisen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass sie nach wie vor bedeutendes und ganzheitliches Projekt der kulturellen Erneuerung im globalen Maßstab bleibt. Dieses Projekt ist nicht als einfacher Aufruf zur Rückkehr in die Vergangenheit zu verstehen. Der Gedankengut von Johannes Paul II. ist nämlich durchaus modern, originell und kreativ, wobei er auch traditionell im besten Sinne des Wortes ist. Sein rastloses Streben nach dem Gleichgewicht zwischen Tradition und Modernität brachte ins Leben der Kirche und in die universellen Kreise der Kultur, Politik und Wissenschaft einen Hauch der Frische. In dieser Hinsicht ist der heilige Papst ein wahrer Kirchenlehrer und Doktor der Kirche, und zugleich ein wichtiger Hüter europäischer Werte geworden, die das unerschütterliche Fundament der modernen Zivilisation bilden. In meinem Vortrag möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf drei Dimensionen des Erbes vom hl. Johannes Paul II. richten, in denen dieses Erbe am kreativsten ist. Das sind, meines Erachtens, die wichtigsten Gründe, warum Johannes Paul II. als Doktor der Kirche und einer der Schutzpatrone unserer europäischen Heimat anerkannt werden sollte. 1. Kirchenvision von Johannes Paul II.: ein Doktorat in Ekklesiologie Der Papst aus Polen war außerordentlich arbeitsam. Eine Vielzahl von öffentlichen Auftritten, Audienzen, Auslandsreisen und inhaltsreichen Dokumenten beweisen nicht nur seinen Fleiß, sondern auch die wahre Liebe zur Braut Christi, für die der auferstandene Herr ihn zum Hüter und Hirten gemacht hat. Die Größe dieses Erbes sollte jedoch nicht nur quantitativ gemessen werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass das Leben von Karol Wojtyła, also Papst Johannes Paul II. ein großartiges Zeugnis über den Primat Gottes im persönlichen und gesellschaftlichen Leben ist. Die Größe des Papstes ist die Größe der Gnade Gottes, die der Jünger Christi treu beantwortete, schützte und überlieferte, und deren er Apostel, Verkünder, Zeuge1 und Ikone wurde. Das Erbe Wojtyłas ist ein Zeugnis: die größte Stärke des Papstes bestand nicht darin, die Schlüsselgewalt zu besitzen, sondern ein demütiger und transparenter Zeuge von Gottes Schönheit, Güte und Liebe inmitten einer leidenden Welt zu sein. Der Aufruf zum päpstlichen Amt war in erster Linie eine Frage der internen Berufung zu einer noch größerer Solidarität mit Gott und Mensch. Die institutionellen und rechtlichen Dimensionen des päpstlichen Zeugnisses – beispielsweise in der Neufassung vom Kodex des kanonischen Rechts von 1983 – waren schon immer dem Aufbau von Beziehungen und der Entwicklung der Kirche, die als «ein Sakrament der innigen Vereinigung mit Gott «2 verstanden wird, unterordnet. Es war die Kirche, die in den Seelen erwacht – ich bediene mich hier des Ausdrucks von Romano Guardini – die im Mittelpunkt des Lebens und Wirkens von Johannes Paul II. stand. Die Bedeutung des päpstlichen Zeugnisses sehe ich vor allem darin, wie Wojtyła die Kirche versteht. Noch vor seiner Wahl zum Päpstlichen Stuhl schrieb er in seinem Gedicht Stanisław, dass die Kirche für ihn der intimste Raum seines eigenen Inneren und „der Boden und Gipfel seines Seins ist“.3 Als Konsequenz der Begegnung mit Christus nahm der Papst Wojtyła die Kirche ins Mittelpunkt seines persönlichen Lebens an. Die Kirche wurde sein Zuhause und er wurde ein Zuhause für die Kirche. Wie man diese Worte versteht, wird jeder wissen, der ihm wenigstens einmal persönlich begegnet ist und sich an seinen Blick und seine Handberührung erinnert. Es gab keine Fremdheit oder Distanz in ihm. Als ein der Kirche und dem Gott ergebener Mensch, ergab er sich auch den Menschen und fand Raum für sie in seinem Herzen. Die äußere Herzlichkeit strahlte aus den Tiefen seines Inneren aus, das für alle ein gastfreundliches Zuhause war. Wojtylas wichtigste Lektion ist die über die Aufnahme der Kirche in sein Inneres und die Identifikation mit Menschen, die an Gott glauben, ihn lieben und auf ihn hoffen. Sagen wir es klar und deutlich: in einer fragmentierten, gebrochenen Welt, in der sich immer mehr Menschen auf unterschiedliche Weise verwirrt fühlen, predigte Johannes Paul II. konsequent das Geheimnis der Kirche als Zuhause für alle. Papst Wojtyła war ein von Menschen stammender und für Menschen ernannter Papst. Das beweist sein Wille, den Menschen nahe zu sein, die für so viele Menschen gehaltenen Messen in seiner privaten Kapelle, Treffen am Tisch, Überwindung von Hindernissen während der Audienzen, Stapeln von Gebetskarten, die ununterbrochen in den Nischen seines Betstuhls verblieben. Ohne Übertreibung kann festgestellt werden, dass die Kirche während des Pontifikats von Johannes Paul II. aufs Neue und definitiv ihr menschliches Gesicht zeigte und wieder ein Zuhause wurde. Das beweisen nicht nur konkrete Ereignisse, die oft verschiedene Konventionen überschreiten, sondern auch zahlreiche päpstliche Dokumente und deren Inhalte. Lassen wir beispielsweise die bahnbrechende Familiaris consortio erwähnen, in der er de facto einen Teil die Exkommunikation von den Geschiedenen zurücknimmt, um sie zu einer tieferen Integration mit der Kirche einzuladen. Was für ein wunderschöner Ausdruck herzlicher Fürsorge für den Menschen, Ausdruck der Begleitung und zugleich auch ein Beweis eines großen pastoralen Mutes in einem epochalen Maß. In dieser Hinsicht wird Johannes Paul II. für immer ein wahrer Doktor der Kirche bleiben, der lehrt, dass nur derjenige sie versteht, der sie in sein Inneres einlädt. Diese innovative Ekklesiologie, die mehr in der Lebenspraxis als auf dem Papier zum Ausdruck kommt, verdient es, eine Herz-Ekklesiologie genannt zu werden. Die Offenheit der Kirche für Missionen, der pastorale Tenor des Petrusdienstes, das Zeigen des freundlichen Gesichts der Kirche – das sind alles Früchte dieser herzlichen Vision der Kirche, die im Herzen von Johannes Paul II. tief verwurzelt war. Es besteht kein Zweifel, dass auf dem