Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 29
Nur zwei Monate nach „Evangelium vitae“ publizierte der hl. Johannes Paul II. am 25. Mai 1995 die nächste Enzyklika – „Ut unum sint„. Es ist ein ermutigendes Dokument zur Ökumene, ein Bekenntnis zur christlichen Brüderlichkeit und zugleich eine Bekräftigung der römisch-katholischen Lehre. Johannes Paul II. wusste, dass die Trennung der Christenheit ein tiefer Schmerz ist, aber er wusste auch, dass jeder weltlich noch so sympathische Versuch, wie dieser in heutigen Dokumenten in Deutschland zum Ausdruck kommt – ein Beispiel dafür ist das Papier „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ –, Gemeinschaft unter Christen eigenmächtig und selbstständig herzustellen, bestehende Spaltungen vertieft.
Was verbindet Christen? Johannes Paul II. antwortet: „Das Kreuz!“ – und Christen, die zum Kreuz stehen, werden zum Ärgernis für die Welt, erregen Anstoß: „Die antichristliche Strömung setzt sich zum Ziel, den Wert des Kreuzes zu zerstören, es seiner Bedeutung zu entleeren, indem sie leugnet, daß der Mensch in ihm die Wurzeln seines neuen Lebens hat; indem sie behauptet, das Kreuz vermöge weder Aussichten noch Hoffnungen zu nähren: der Mensch, so heißt es, ist nur ein irdisches Wesen, das so leben soll, als ob es Gott nicht gäbe.“ Die römisch-katholische Kirche, die orthodoxen Kirchen und die Kirchengemeinschaften der Reformation stehen vor der Herausforderung durch Apostasie, Relativismus und Gleichgültigkeit. Der heilige Papst wirbt dafür, die „Divergenzen in den Lehrmeinungen“ zu lösen und erinnert an die Notwendigkeit des Gebetes für die Einheit der Kirche. Die Erneuerung in Christus ist unverzichtbar: „Dazu braucht es einen ruhigen und klaren, der Wahrheit verpflichteten und von der göttlichen Barmherzigkeit belebten Blick, der imstande ist, den Geist zu befreien und in einem jeden eine neue Bereitschaft zu wecken im Hinblick auf die Verkündigung des Evangeliums an die Menschen jedes Volkes und jeder Nation.“ Die römisch-katholische Kirche ist zur Treue gegenüber dem Zweiten Vatikanischen Konzil verpflichtet, die eine christozentrische Erneuerung und eine Bekehrung jedes Einzelnen gefordert hat: „Im Lehramt des Konzils besteht ein klarer Zusammenhang zwischen Erneuerung, Bekehrung und Reform.“ Welche Art Reform aber ist konzilsgemäß und entspricht der Lehre der Kirche? Der heilige Papst klärt auf: „Es geht in diesem Zusammenhang nicht darum, das Glaubensgut zu modifizieren, die Bedeutung der Dogmen zu ändern, wesentliche Worte aus ihnen zu streichen, die Wahrheit an den Zeitgeschmack anzupassen, bestimmte Artikel aus dem Credo zu streichen mit der falschen Vorgabe, sie würden heute nicht mehr verstanden. Die von Gott gewollte Einheit kann nur in der gemeinsamen Zustimmung zur Unversehrtheit des Inhalts des geoffenbarten Glaubens Wirklichkeit werden. Was den Glauben betrifft, steht der Kompromiß im Widerspruch zu Gott, der die Wahrheit ist.“ Der Glaube an Gott ist nicht Verhandlungssache, ebenso wenig der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich alle Konfessionen und vielleicht auch Religionen verständigen könnten. Johannes Paul II. wirbt für eine Vertiefung der Brüderlichkeit im gemeinsamen Gebet der Konfessionen: „Man schreitet auf dem Weg, der zur Bekehrung der Herzen führt, zum Rhythmus der Liebe voran, die sich Gott und zugleich den Brüdern zuwendet: allen Brüdern, auch jenen, die sich nicht in voller Gemeinschaft mit uns befinden. Aus der Liebe entsteht die Sehnsucht nach der Einheit auch bei denen, die das Erfordernis der Einheit stets ignoriert haben. Die Liebe ist Baumeisterin der Gemeinschaft unter den Menschen und unter den Gemeinschaften. Wenn wir uns lieben, sind wir bestrebt, unsere Gemeinschaft zu vertiefen, sie auf die Vollkommenheit hin auszurichten. Die Liebe wendet sich an Gott als vollkommene Quelle der Gemeinschaft — die Einheit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes —, um daraus die Kraft zu schöpfen, die Gemeinsamkeit unter den Menschen und Gemeinschaften zu wecken oder sie unter den getrennten Christen wiederherzustellen. Die Liebe ist der tiefe Strom, der den Prozeß auf die Einheit hin belebt und mit Kraft erfüllt. Diese Liebe findet ihren vollendetsten Ausdruck im gemeinsamen Gebet.“ Der Weg der Ökumene sei der Weg eines gemeinsamen Betens: „Schließlich führt die Gebetsgemeinschaft dazu, die Kirche und das Christentum mit neuen Augen zu sehen. Man darf nämlich nicht vergessen, daß der Herr vom Vater die Einheit seiner Jünger erfleht hat, damit sie Zeugnis gäbe von seiner Sendung und die Welt glauben könnte, daß der Vater ihn gesandt hatte (vgl. Joh 17, 21). Man kann sagen, daß die ökumenische Bewegung in gewissem Sinne ihren Ausgang von der negativen Erfahrung derer genommen hat, die sich bei der Verkündigung des einen Evangeliums jeweils auf ihre Kirche oder kirchliche Gemeinschaft beriefen; ein Widerspruch, der keinem entgehen konnte, der die Heilsbotschaft hörte, und der darin ein Hindernis für die Annahme des Evangeliums fand. Leider ist dieses schwerwiegende Hindernis noch nicht überwunden. Es ist wahr, wir befinden uns noch nicht in voller Gemeinschaft. Doch trotz unserer Spaltungen befinden wir uns auf dem Weg zur vollen Einheit, jener Einheit, die die apostolische Kirche in ihren Anfängen kennzeichnete und nach der wir aufrichtig suchen: unser vom Glauben geleitetes gemeinsames Gebet ist dafür ein Beweis. Zu ihm versammeln wir uns im Namen Christi, der Einer ist. Er ist unsere Einheit.“ Nur auf dem Weg des Gebetes kann die Nähe wachsen, nicht nur durch noch so gutgemeinte und von der Lehre der Kirche nicht gedeckte Aktionen – wie etwa eine beliebige Zulassung zum Empfang der Hl. Kommunion für alle Christen, die sich eingeladen fühlen. Die Ökumene, daran erinnert Johannes Paul II. leidenschaftlich, bedarf des Dialogs, und die Gemeinschaft wächst nur in, mit und durch Christus. Darum sind Christen aller Konfessionen berufen, für die Einheit der Kirche zu beten.
Quelle: CNA Deutsch, 14. August, 2021
Autor: Dr. Thorsten Paprotny