Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 32
Auf das „Licht der Vernunft“ vertrauen Philosophen gestern und heute, aber Johannes Paul II. hat den oft unbemerkt verengten Horizont des säkularen Denkens erkannt und – anders als etwa die Vertreter der Aufklärungsphilosophie – betont, dass der Glaube den „inneren Blick“ schärft und dem Verstand eine neue Offenheit schenkt, um „im Strom der Ereignisse die tätige Gegenwart der Vorsehung zu entdecken“. So bekräftigt er in seiner Enzyklika „Fides et ratio“: „Man könnte sagen, der Mensch vermag mit dem Licht der Vernunft seinen Weg zu erkennen, kann ihn aber nur dann rasch und ohne Hindernisse zu Ende gehen, wenn er mit redlichem Herzen sein Forschen in den Horizont des Glaubens einfügt. Vernunft und Glaube lassen sich daher nicht voneinander trennen, ohne daß es für den Menschen unmöglich wird, sich selbst, die Welt und Gott in entsprechender Weise zu erkennen.“
Vernunft und Glaube gehören zueinander. Es sei vernünftig, „Gottes souveräne Transzendenz und zugleich seine sorgende Liebe bei der Lenkung der Welt“ anzuerkennen. Wer nicht die Grenzen der Erkenntnis akzeptiere, bilde sich ein, vieles zu wissen, verkenne aber das Wesentliche. Was mit der Vernunft erkannt werde, erlange erst seine volle Bedeutung im „Horizont des Glaubens“: „Die Tiefgründigkeit der geoffenbarten Weisheit sprengt den Zirkel unserer üblichen Denkschemata, die keinesfalls in der Lage sind, sie adäquat wiederzugeben. … Die Vernunft kann das Geheimnis, das das Kreuz darstellt, nicht der Liebe entleeren; stattdessen kann das Kreuz der Vernunft die letzte Antwort geben, nach der sie sucht.“ Der gekreuzigte und auferstandene Christus zeigt die „Grenze zwischen Vernunft und Glaube“, aber von hier aus könne das „unendliche Meer der Wahrheit“ erkundet werden. Auch heute fragt der Mensch nach dem Guten, nach dem Großen, nach der Wahrheit und sucht „nach einer endgültigen Erklärung, nach einem höchsten Wert, über den hinaus es weitere Fragen oder Verweise weder gibt noch geben kann“. Der heilige Papst legt dar: „Die Sehnsucht nach der Wahrheit wurzelt so tief im Herzen des Menschen, daß das Abstandnehmen davon die Existenz gefährden würde. Es genügt schließlich die Beobachtung des Alltagslebens um festzustellen, daß jeder von uns die quälende Last einiger wesentlicher Fragen in sich trägt und zugleich in seinem Herzen zumindest den Entwurf der dazugehörigen Antworten hütet. Es sind Antworten, von deren Wahrheit man auch deshalb überzeugt ist, weil man die Erfahrung macht, daß sie sich im wesentlichen nicht von den Antworten unterscheiden, zu denen viele andere gelangt sind. Sicherlich besitzt nicht jede Wahrheit, die erworben wird, denselben Wert. Von der Gesamtheit der erreichten Ergebnisse wird jedoch die Fähigkeit des Menschen bestätigt, grundsätzlich zur Wahrheit zu gelangen.“ So stehe die „»Wahrheit«, die uns Gott in Jesus Christus offenbart, nicht im Widerspruch zu den Wahrheiten, zu denen man durch das Philosophieren gelangt“: „Die beiden Erkenntnisordnungen führen ja erst zur Wahrheit in ihrer Fülle.“
Johannes Paul II. weist besonders darauf hin, dass das Christentum – und nicht etwa die Philosophie und Kultur der Antike – die wesentliche Aufklärungsbewegung der Menschheit darstellt. Kein Grund besteht darin, die Sklavenhaltergesellschaften des Altertums zu verklären, in denen weder Päderastie noch Kindstötung verboten waren – und die Gattin als Eigentum des Ehemannes galt. Das Christentum bestätigt das Recht aller „auf Zugang zur Wahrheit“: „Das Christentum hatte nach dem Niederreißen der durch Rasse, sozialen Stand und Geschlecht bedingten Schranken von Anfang an die Gleichheit aller Menschen vor Gott verkündet. Die erste Konsequenz dieser Auffassung wandte man auf das Thema Wahrheit an. Der elitäre Charakter, den die Wahrheitssuche bei den Alten hatte, wurde mit Entschlossenheit überwunden: Da der Zugang zur Wahrheit ein Gut ist, das es ermöglicht, zu Gott zu gelangen, müssen alle in der Lage sein, diesen Weg gehen zu können.“
Der heilige Papst würdigt die einzelnen Etappen der Begegnung von Vernunft und Glaube. Insbesondere das Werk Thomas von Aquins. Dieser habe die „Harmonie“ beider gezeigt: „Das Licht der Vernunft und das Licht des Glaubens kommen beide von Gott, lautete sein Argument; sie können daher einander nicht widersprechen.“ In der Moderne hingegen sei der „atheistische Humanismus“ weit verbreitet, ebenso die „Philosophie des Nichts“, des Nihilismus, die einen gefährlichen Zauber ausübe. So wie die Denker der Kritischen Theorie, man denke an Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, übt der Papst Kritik an der zeitgenössischen Philosophie: „Statt auf die Anschauung der Wahrheit und die Suche nach dem letzten Ziel und dem Sinn des Lebens sind diese Formen der Vernünftigkeit als »instrumentale Vernunft« darauf ausgerichtet, utilitaristischen Zielen, dem Genuß oder der Macht zu dienen.“
In diesem Sinne führt Johannes Paul II. weiter aus: „Der Glaube, dem die Vernunft fehlt, hat Empfindung und Erfahrung betont und steht damit in Gefahr, kein universales Angebot mehr zu sein. Es ist illusorisch zu meinen, angesichts einer schwachen Vernunft besitze der Glaube größere Überzeugungskraft; im Gegenteil, er gerät in die ernsthafte Gefahr, auf Mythos bzw. Aberglauben verkürzt zu werden. In demselben Maß wird sich eine Vernunft, die keinen reifen Glauben vor sich hat, niemals veranlaßt sehen, den Blick auf die Neuheit und Radikalität des Seins zu richten. Nicht unangebracht mag deshalb mein entschlossener und eindringlicher Aufruf erscheinen, daß Glaube und Philosophie die tiefe Einheit wiedererlangen sollen, die sie dazu befähigt, unter gegenseitiger Achtung der Autonomie des anderen ihrem eigenen Wesen treu zu sein. Der parrhesia (Freimütigkeit) des Glaubens muß die Kühnheit der Vernunft entsprechen.“ Johannes Paul II. wirbt für eine „echte Erneuerung des philosophischen Denkens“. Es sei wünschenswert, „daß sich Theologen und Philosophen von der einzigen Autorität der Wahrheit leiten lassen und eine Philosophie erarbeiten, die im Einklang mit dem Wort Gottes steht“: „Diese Philosophie wird der Boden für die Begegnung zwischen den Kulturen und dem christlichen Glauben sein, der Ort der Verständigung zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden. Sie wird hilfreich sein, damit sich die Gläubigen aus nächster Nähe davon überzeugen, daß die Tiefe und Unverfälschtheit des Glaubens gefördert wird, wenn er sich mit dem Denken verbindet und nicht darauf verzichtet.“ Mit großer Zuversicht schreibt Johannes Paul II.: „Dank der Vermittlung einer zu echter Weisheit gewordenen Philosophie wird der heutige Mensch allmählich erkennen können, daß er um so mehr Mensch sein wird, je mehr er sich, im Vertrauen auf das Evangelium, Christus öffnet.“
Die abschließenden Passagen der Enzyklika weisen den Weg in die Kontemplation – und die Worte des heiligen Papstes sind bis heute von großer Aktualität: „Mein letzter Gedanke gilt derjenigen, die das Gebet der Kirche als Sitz der Weisheit anruft. Ihr Leben ist ein wahres Gleichnis, daß den zurückgelegten Weg meiner Überlegung zu erleuchten vermag. Denn es läßt sich ein tiefer Einklang erahnen zwischen der Berufung der seligen Jungfrau Maria und der Berufung echter Philosophie. Wie die Jungfrau berufen wurde, ihr ganzes Sein als Mensch und Frau darzubringen, damit das Wort Gottes Fleisch und einer von uns werden konnte, so ist die Philosophie berufen, ihre kritische Vernunftarbeit zu leisten, damit die Theologie als Verständnis des Glaubens fruchtbar und wirksam sei. Wie Maria durch ihre Zustimmung zu der von Gabriel verkündeten Botschaft nichts von ihrem wahren Menschsein und ihrer Freiheit eingebüßt hat, so verliert das philosophische Denken nichts von seiner Autonomie, wenn es sich der Anfrage stellt, die von der Wahrheit des Evangeliums kommt.“ Auch die Theologie muss sich – besonders in dieser Zeit – neu an der Wahrheit des Evangeliums ausrichten, um den Versuchungen des Zeitgeistes zu widerstehen.
Quelle: CNA Deutsch, 4. September, 2021
Autor: Dr. Thorsten Paprotny