Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 16
Die Enzyklika „Veritatis splendor“ – von Papst Johannes Paul II. publiziert am 6. August 1993 – wurde schon damals von sehr vielen deutschen Moraltheologen übersehen oder missbilligt. Nationalkirchlicher oder reformtheologischer Eigensinn ist also mitnichten eine Neuheit, sondern eher Ausdruck der beständigen Wiederkehr einer wie immer begründeten Abwendung von Rom. Es hat schon so viele Versuche gegeben, eine Neumodellierung der kirchlichen Lehre anzustellen. Diese traurige Geschichte setzt sich fort. Doch Johannes Paul II. spricht vom „Glanz der Wahrheit“, der jede bunt illuminierte Meinung in Zeit und Ewigkeit überstrahlen und überdauern wird – „die Wahrheit erleuchtet den Verstand und formt die Freiheit des Menschen, der auf diese Weise angeleitet wird, den Herrn zu erkennen und zu lieben“. Wahrheit und Liebe lassen sich nicht voneinander lösen. Der endliche Verstand, der meint, sich selbst aufzuklären und als autonom begreift, gerät ins Dunkel, bisweilen in die Finsternis seiner eigenen Meinungen, die er mit der Wahrheit identifiziert. Umkehr ist nötig. Nur die Wahrheit, die Jesus Christus in Person ist, erleuchtet den Verstand, führt den Menschen aus der Verstrickung seiner eigenen Befindlichkeiten und Irrtümer zum Licht, das die Welt erleuchtet. Dieses Licht Christi klärt auf über Sünde und formt sodann den Menschen, der sich nicht mehr trotzig und feindselig von Gott abwendet, sondern – wie der heilige Papst formuliert – „den Herrn zu erkennen und zu lieben“ lernt.
Eigentlich, so denken wir heute lesend und betrachtend, ist der Glaube nicht nur schön, sondern auch einfach, so einfach, dass ein gotteskindliches Herz diesen dankbar annehmen und die Weisungen der Kirche getreu befolgen kann. Doch dem Gläubigen fällt es schwer, sich auf Gott zu besinnen. So viele Christen verlernen die Ehrfurcht vor Christus, versäumen es, Gott anzubeten, fühlen sich eingeengt und möchten sich vom scheinbaren Joch der kirchlichen Lehre befreien. Wir sehen das in diesen Tagen mit neuer Schärfe.
Johannes Paul II. spricht von kirchlichem Gehorsam und damit zugleich auch von dem hörenden Herz des Gläubigen, der offen sein soll für Gottes Wort und Weisung: „Dieser Gehorsam ist nicht immer leicht. In der Folge der geheimnisvollen Ursünde, begangen auf Anstiftung Satans, der »ein Lügner und der Vater der Lüge ist« (Joh 8, 44), ist der Mensch immerfort versucht, seinen Blick vom lebendigen und wahren Gott ab- und den Götzen zuzuwenden (vgl. 1 Thess 1, 9), während er »die Wahrheit Gottes mit der Lüge« vertauscht (Röm 1, 25); damit wird auch seine Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, beeinträchtigt und sein Wille, sich ihr zu unterwerfen, geschwächt. Und so geht er, während er sich dem Relativismus und Skeptizismus überläßt (vgl. Joh 18, 38), auf die Suche nach einer trügerischen Freiheit außerhalb dieser Wahrheit.“
Diese „trügerische Freiheit“ hat viele Gesichter, die Reihe der Versuchungen ist nahezu endlos – und reicht bis weit in den Raum der Kirche hinein. Lässt es sich nicht leichter leben ohne Gott? Wollen wir nicht endlich den Ballast der Morallehre abwerfen, ein freizügiges, wahrhaft existenzialistisch freies Leben führen – des eigenen Glückes Schmied sein? Suchen wir nicht ein ungebundenes Glück abseits normativer, sakramentaler und naturrechtlicher Vorgaben? Darf nicht jeder Mensch leben, wie es ihm gefällt – und trotzdem darauf hoffen, dass Gott das nicht nur anerkennt, sondern irgendwie sogar gutheißt?
Wir können Lebensformen vergötzen, wir können Lebensweisen glorifizieren – und wir können auch sogar uns verführen lassen all das, was Sünde ist, als Ausdrucksform moderner Freiheiten zu begreifen. Wir können uns zur absoluten Autonomie des Menschen bekennen – und das Credo der Kirche relativieren. Der Mensch steht inmitten der Versuchungen, er wird verführt vom Konsumismus und dem Reigen an zeitgeistlichen Unsitten der mondänen Weltlichkeit. Doch Bekehrung ist möglich, ist nötig. Ja, der Mensch kann sich in der modernen Welt verführen und betäuben lassen – und schweren Schaden nehmen an der Seele. Eine regional modernistisch gesinnte Kirche selbst würde diese Schäden vermehren, wenn sie die Treue zum Evangelium und zur Lehre der Kirche aller Zeiten und Orte aufgeben würde – einer trügerischen, auch tückischen Freiheit der Menschen wegen. Nie ist die Unfreiheit, nie ist das Elend des Menschen aber größer als im Stadium der Abwendung von Gott und seiner Kirche.
Johannes Paul II. bekräftigt in seiner großen Enzyklika, die hier in mehreren Betrachtungen gewürdigt werden soll, dass Gottes Wahrheit immer größer ist als alle groß erscheinenden, aber falschen Meinungen und fehlerhaften Haltungen: „Aber keine Finsternis des Irrtums und der Sünde vermag das Licht des Schöpfergottes im Menschen völlig auszulöschen. In der Tiefe seines Herzens besteht immer weiter die Sehnsucht nach der absoluten Wahrheit und das Verlangen, in den Vollbesitz ihrer Erkenntnis zu gelangen. Davon gibt das unermüdliche menschliche Suchen und Forschen auf jedem Gebiet ein beredtes Zeugnis.
Das beweist noch mehr die Suche nach dem Sinn des Lebens. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik ist zwar ein großartiges Zeugnis der Fähigkeit des Verstandes und der Ausdauer der Menschen, befreit aber die Menschheit nicht davon, sich letzte religiöse Fragen zu stellen, sie spornt sie vielmehr dazu an, die schmerzlichsten und entscheidendsten Kämpfe, jene im Herzen und im Gewissen, auszutragen.“ Mit Johannes Paul II. dürfen wir voller Hoffnung und Zuversicht sein: Ja, die Sehnsucht nach Gott besteht fort. Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat.
Quelle: CNA Deutsch, 08. Mai, 2021
Autor: Dr. Thorsten Paprotny