Prof. DDr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Edith Stein als Europäerin

Vorwort: Im 1999 wurde die heilige Edith Stein, zusammen mit der heiligen Birgitta von Schweden und der heiligen Katharina von Siena, zur Mitpatronin Europas erklärt. Der erste Heilige, der zum Patron Europas im Jahr 1964 erhoben wurde, war Benedikt von Nursia, dann schlossen sich ihm Kyrill und Methodius im Jahr 1980 an. Auf der Webseite jp2.at wollten wir vertiefende Informationen über alle bisherigen Mitpatronen Europas zur Verfügung stellen. Auf weitere, interessante Artikel zum Thema „Patron Europas“ möchten wir hier verweisen: Ansprache bei der Seligsprechung von Edith Stein in Köln, Papst Johannes Paul II. von 1987  (Link) Kardinal Dr. Christoph Schönborn:  „Edith Stein: vorurteilsfreies Hinhören“ (Link) Benedikt von Nursia – der Patron Europas (Link)  Wir bedanken uns besonders herzlich bei Frau Prof. DDr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz für die Unterstützung unseres Vorhabens durch ihre aufbauenden Worte und ihre Ausarbeitung über „hl. Edith Stein als Europäerin“ aus philosophischer Perspektive, die wir im Kontext „Mitpatronen Europas“ auf jp2.at präsentieren dürfen. Cz. Ogrodnik   Prof. DDr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Link zu weiteren Information) (c) copyright by the author   Edith Stein (1891-1942) als Europäerin Leben in Spannung Vieles, was seit dem 19. Jahrhundert gespalten war, tritt in Edith Stein, neu zusammengefügt, in den „katholischen Frühling“ der 20er Jahre ein: Wissen­schaft und Religiosität, Intellekt und Hingabe, anspruchsvolles Den­ken und Demut, Juden­tum und Christentum. Unter den wenigen Photographien fallen zwei Ge­sichter auf, die doch eines sind: die stolze, selbstbewußte, selbst­kritische Doktorin der Philosophie und die „Braut des Lammes” mit dem rätselhaft schmerzlichen und tief verinner­lichten Gesichtsausdruck auf dem Bild ihrer Ein­kleidung in den Kölner Karmel im April 1934. Dazwischen liegt ein Abstand, den Edith Stein mit Denken, mit Feuer, mit Leben, mit Glück, aber auch mit holocaustum gefüllt hat – einem Wort, das sie selbst bereits im Blick auf Husserl im Sinne von „Ganzhingabe” verwendet. Unabsichtlich wird sie aber durch ihren Geburtsort Breslau, heute Wroclaw, auch zur Brückenbauerin zwischen Deutschen und Polen, und in ihrer Lebenshingabe (die noch beleuchtet wird) ebenso zwischen Deutschen und Juden. Sie beherrscht sechs Sprachen: deutsch, griechisch, lateinisch, polnisch, englisch, französisch,  und wird in den beiden letzten Jahren ihres Lebens dazu noch holländisch lernen. Entscheidendes wird bereits in der „Dichte der Kindheit“ (Rilke) vorbereitet. Schon der Mutter war die Geburt des elften und letzten Kindes am hohen Versöhnungsfest, damals am 12. Oktober 1891, auszeichnend. Breslau, Geburtsort Edith Steins, besaß eine starke jüdische Gemeinde. Beide Eltern entstammten kinderreichen Familien aus dem schlesischen Kleinbürgertum, die allerdings um die Jahrhundertwende durch Studium und wachsenden Wohlstand mittelständisch wurden. Das Mädchen wächst vaterlos auf: Siegfried Stein (1843-1893), Holz- und Kohlenhändler in Breslau, stirbt plötzlich auf einer Geschäftsreise. So übernimmt die Witwe Auguste, geborene Courant (1849-1936), das Geschäft. Das Bild dieser starken Frau, die ungelernt, mit erstaunlichem Erfolg und größtem Fleiß in die Arbeit einsprang, hat die Tochter später beim Entwurf der weiblichen Arbeitswelt und vor allem bei der Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf geleitet. Auguste Stein besaß praktische Lebens­klugheit und eine verhaltene, aber selbstverständliche Frömmigkeit; dennoch wuchsen die Kinder bereits in ein liberal-preußi­sches Kulturbürgertum hinein.[1] Die unaufhaltsame Assimilation dieser Generation warf die religiöse Tradition unbefangen weithin ab – sie überlebte eher in Form von Brauchtum, wie der Sabbatfeier und dem jüdischen Hochzeitsritual der Lieblingsschwester Erna. Die Mutter ist die zutiefst prägende Gestalt und von starker charakterlicher Überein­stimmung mit der Tochter: Ethische Entschiedenheit, Bedürfnislosigkeit und Selbstdisziplin bleiben grundlegendes Erbe. Von der frühen Auffassungsgabe der „klugen Edith“, die den Kindergarten verweigert und dringlich in die Schule strebt, über ihre erstklassigen schulischen Leistungen bis zu Gymnasium und Abitur 1911, wo sie als Prima den Denkspruch erhält: „Schlag an den Stein, und Weisheit springt heraus“, und bis zu ihrer glänzenden Studienzeit und Promotion 1916 geht ein geradliniger, kaum gehemmter Weg. Hervorstechend ist eine rasch und gründlich aufnehmende Intelligenz, allerdings steht sie neben einer zeitweise über­mäßigen Verschlossenheit. In der Autobiographie Aus dem Leben einer jüdischen Familie wird die Gefährdung dieser jugendlichen Phase – bis zur Lebensmüdigkeit – mit Freimut angesprochen. Schon die Gymna­si­astin wendet sich den Idealen der Frauenbewegung zu, an der sie den männlich-kämpferischen Zug schätzt. Das leichte Abstreifen des Betens mit 14 Jahren ist bezeichnend, weil sich daran das Gesetz ihrer ganzen Generation zeigt: statt einer unverstandenen Tradition anzuhängen, lieber aufrichtig in einem keineswegs unangenehmen Vacuum zu stehen; später wirft sich Edith Stein die „Sünde des radikalen Unglaubens“ vor.[2] Das – erstmals für Frauen mögliche – Studium führt Stein zu inneren Durchbrüchen. Zunächst freilich bleibt das in Breslau 1911 begonnene Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Psychologie der kritischen Studentin zu flach – vor allem die bei William Stern gepflegte „Psychologie des Denkens“. Erst Edmund Husserls Logische Untersuchungen (1900/01) führen zum ersehnten intellektuellen Anreiz und zum leichtfüßigen Wechsel nach Göttingen 1913. Sofort in Husserls Seminar aufgenommen kommen der Wunsch nach methodischer Klärung und das Drängen nach selbständiger Arbeit zur Entfaltung. Stein besaß von Anfang an das Zielgerichtete und Willens­beton­te einer großen rezeptiven Kraft. So führte sie gleich das Sitzungsprotokoll der Göttinger Philosophischen Gesell­schaft, in der auch Max Scheler, damals der aufgehende Stern eines neuen katholischen Denkens, vortrug. Schelers philosophische Schätzung des Religiösen klang für die Agnostikerin erstaunlich, aber nicht unlogisch: „Das war meine erste Berührung mit dieser mir bis dahin völlig unbekannten Welt. (…) sie erschloß mir einen Bereich von ‘Phänomenen’, an denen ich nun nicht mehr blind vorbeigehen konnte. (…) Die Schranken der rationalistischen Vorurteile, in denen ich aufgewachsen war, ohne es zu wissen, fielen, und die Welt des Glaubens stand plötzlich vor mir.“[3] Der Erste Weltkrieg führte zu tiefer, kaum zu bewältigender Erschütterung, zumal der triumphale Aufbruch sich immer tiefer in die Niederlage verstrickte. Die überzeugte Patriotin – Schlesierin, Preußin, Deutsche in konzentrischer Reihung – unterbricht 1915 Studium und Doktorarbeit zugunsten eines Lazarett-Ein­satzes in Mährisch-Weiskirchen. Zurückgekehrt beendet sie nicht ohne Krisen nervlicher und intellektueller Erschöpfung ihre Dissertation über Einfühlung, die Husserl, mittlerweile nach Freiburg berufen, im August 1916 summa cum laude benotet. Stein findet sich jedoch bei allem steil aufstrebenden Weg in einer unklaren Lage: Husserl erwägt grundsätzlich keine Habilitation von Frauen; ein nicht-philosophischer „Brotberuf“ ist ihr jedoch undenkbar. Immerhin stellt der „Meister“ die ebenso fähige wie fleißige Doktorin

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