Die Freiheit der Kinder Gottes

Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 17
llustration Foto: Sunyu / Unsplash (CC0)

Ein großes Anliegen war Papst Johannes Paul II. die „ständige Vertiefung der sittlichen Erkenntnis“, wie er in der Enzyklika „Veritatis splendor“ ausführt. Er denkt an seine Vorgänger, aber auch an die Gemeinschaft der Bischöfe, die bestrebt waren, den Wert und die Bedeutung der Sittenlehre vertieft auszuarbeiten und zu verkünden – „im Namen und mit der Autorität Jesu Christi“.

Wichtig sei,  „mit der Garantie des Beistands des Geistes der Wahrheit“ die Menschen  „zu einem besseren Verständnis der sittlichen Ansprüche im Bereich der menschlichen Sexualität, der Familie, des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens“ anzuleiten. Wir können uns vielleicht vorstellen, wie der heilige Johannes Paul II. auf das Bekenntnis einiger Bischöfe zu einer Berücksichtigung der von Michel Foucault inspirierten „Lebenswissenschaften“ reagiert hätte. Er stellt berechtigterweise auch 1993 die Sorge fest, dass die „Morallehre der Kirche“ Anfeindungen ausgesetzt ist, ja dass diese lebensfördernde und -dienliche Lehre gefährdet bleibt, fortwährend verfälscht oder verneint zu werden. Auch seinerzeit war die Morallehre schon bedroht von einer laxen Theologie, die die „fundamentalen Wahrheiten“ relativierte oder ignorierte: „Es handelt sich nicht mehr um begrenzte und gelegentliche Einwände, sondern um eine globale und systematische Infragestellung der sittlichen Lehrüberlieferung aufgrund bestimmter anthropologischer und ethischer Auffassungen. Diese haben ihre Wurzel in dem mehr oder weniger verborgenen Einfluß von Denkströmungen, die schließlich die menschliche Freiheit der Verwurzelung in dem ihr wesentlichen und für sie bestimmenden Bezug zur Wahrheit beraubt. So wird die herkömmliche Lehre über das Naturgesetz, über die Universalität und bleibende Gültigkeit seiner Gebote abgelehnt; Teile der kirchlichen Moralverkündigung werden für schlechthin unannehmbar gehalten; man ist der Meinung, das Lehramt dürfe sich in Moralfragen nur einmischen, um die »Gewissen zu ermahnen« und »Werte vorzulegen«, nach denen dann ein jeder autonom die Entscheidungen und Entschlüsse seines Lebens inspirieren wird.“

Wir sehen heute staunend die Aktualität dieser Überlegungen des heiligen Papstes. Die Revision der Morallehre wird heute – und es ist ein Vorgang von skandalöser Tragweite – von Amtsträgern der Kirche gefordert. Die Autonomie des Menschen wird von manchen Theologen als höchstes Gut angesehen. Das Naturrecht wird als beliebige Meinung qualifiziert. Johannes Paul II. sieht bereits deutlich, dass die „Antwort der Kirche“ auch in einigen Priesterseminaren bereits abgeschwächt wird und dass an manchen Theologischen Fakultäten eine große „Diskrepanz“ zwischen den dortigen Lehrmeinungen und der Lehre der Kirche herrscht. Er fragt darum: „Besitzen die Gebote Gottes, die dem Menschen ins Herz geschrieben sind und Bestandteil des Bundes Gottes mit ihm sind, tatsächlich die Fähigkeit, die täglichen Entscheidungen der einzelnen Menschen und der gesamten Gesellschaft zu erleuchten? Ist es möglich, Gott zu gehorchen und damit Gott und den Nächsten zu lieben, ohne diese Gebote unter allen Umständen zu respektieren? Verbreitet ist auch der Zweifel am engen und untrennbaren Zusammenhang zwischen Glaube und Moral, so als würde sich die Zugehörigkeit zur Kirche und deren innere Einheit allein durch den Glauben entscheiden, während man in Sachen Moral einen Pluralismus von Anschauungen und Verhaltensweisen dulden könnte, je nach Urteil des individuellen subjektiven Gewissens bzw. der Verschiedenheit der sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen.“

Das, was Johannes Paul II. bereits 1993 benennt, hat sich seither in umfassender Weise ausgebreitet. Das postmoderne Programm einer Separierung von Glaube und Moral spiegelt sich in einer Orientierungslosigkeit, die als Erneuerungsversuch der Kirche firmiert. Das kirchlich gebildete Gewissen und das „subjektive Gewissen“ scheinen sogar für viele Katholiken mittlerweile ununterscheidbar, ja identisch geworden zu sein. Aber auch das Eintreten des Jüngsten Gerichtes ist nicht davon abhängig, ob einzelne Menschen daran glauben oder nicht. 

Die Lehre der Kirche besteht fort, selbst wenn sie nicht verkündet oder wenn deren Verbindlichkeit von Theologen oder Bischöfen geleugnet wird. Wer der Sünde folgt – und dazu gehören auch die Überhöhung des Ichs und der stolze Glaube an die Selbstverwirklichung –, begibt sich in die Knechtschaft. Die Abwendung von Gott und seinen Geboten macht den Menschen arm und unglücklich. Auch alle Selbstrechtfertigungen schützen und helfen nicht. In ihnen spiegelt sich nur die Weisheit dieser Welt, die reine Torheit ist und sich von dem reichen Erbarmen Gottes abschotten will. Die wahre „Lebenswissenschaft“, der wir zu folgen bestellt sind, ist das Evangelium Jesu Christi. Daran erinnert der heilige Johannes Paul II.: „Wer »nach dem Fleische« lebt, empfindet das Gesetz Gottes als eine Last, ja als eine Verneinung oder jedenfalls eine Einschränkung der eigenen Freiheit. Wer hingegen von der Liebe beseelt ist und »sich vom Geist leiten läßt« (Gal 5, 16) und den anderen dienen will, findet im Gesetz Gottes den grundlegenden und notwendigen Weg zur praktischen Übung der frei gewählten und gelebten Liebe. Ja, er spürt den inneren Drang – ein echtes und eigenes »Bedürfnis« und nicht etwa einen Zwang –, nicht bei den Minimalforderungen des Gesetzes stehenzubleiben, sondern sie in ihrer »Fülle« zu leben. Es ist ein noch unsicherer und brüchiger Weg, solange wir auf Erden sein werden, der aber ermöglicht wird von der Gnade, die es uns gewährt, die volle Freiheit der Kinder Gottes zu besitzen (vgl. Röm 8, 21) und somit im sittlichen Leben auf die erhabene Berufung zu antworten, »Söhne im Sohn« zu sein.“ Wer sich in den Willen Gottes einfügt, wer die Gebote in freier Dankbarkeit annimmt und lebt, spürt in sich eine Ahnung der Schönheit, in Gottes großer Weite für immer zu Hause sein zu dürfen. Dies ist ein Vorgeschmack auf den Himmel, der uns verheißen ist – der Weg, zu dem Johannes Paul II. einlädt, heißt: Hingabe an Gott und Treue zur Kirche des Herrn. Vorbilder und Weggefährten können uns alle Heiligen sein.

Quelle: CNA Deutsch, 22. Mai, 2021 

Autor: Dr. Thorsten Paprotny

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