Gewissen und Wahrheit

Geistliche Betrachtungen zu den Enzykliken des hl. Johannes Pauls II. – Teil 21
Klipper (Illustration) Foto: Allan C. Green / Wikimedia (CC0)

Die am 6. August 1993 publizierte Enzyklika „Veritatis splendor“ liest sich in weiten Teilen wie eine substanzielle Kritik an den Signaturen der Gegenwart. In der deutschen Kirchenprovinz verbinden sich etwa hinsichtlich der Lehre des Gewissens subjektive Meinungen mit ökumenischen Absichten – ein Beispiel dafür bietet bedauerlicherweise der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, der Limburger Bischof Dr. Georg Bätzing.

Der heilige Johannes Paul II. indessen hat energisch davor gewarnt, die Bindung von Freiheit und Gesetz über das sittliche und kirchlich gebildete Gewissen zu relativieren oder umzudeuten. Wer die Freiheit in „götzendienerischer Weise verherrlichen“ wolle, vertrete die „Auffassung vom sittlichen Gewissen als »schöpferische« Instanz, eine Auffassung, die sich von der überlieferten Position der Kirche und ihres Lehramtes entfernt“. Die bestehenden Normen – dazu gehört im Übrigen auch das Kirchenrecht, das nur wenige noch zu kennen und zu beachten scheinen – sind ein „bindendes objektives Kriterium für die Urteile des Gewissens“.

In den 1990er-Jahren wie auch heute werde der „»kreative« Charakter des Gewissens“ betont, die „Akte des Gewissens“ würden von vielen Theologen „nicht mehr als »Urteile«, sondern als »Entscheidungen«“ verstanden. Argumentiert werde aus der existenziellen Perspektive, heute kennen wir das Nebelwort „Lebenswirklichkeit“ in diesen Zusammenhängen. Doch der heilige Johannes Paul II. wusste sehr gut, dass der Herr nicht eine Gemeinschaft der besten weltlichen Absichten gestiftet hat, sondern die Kirche aller Zeiten und Orte. Der herrschende Relativismus führe dazu, „in der Praxis guten Gewissens das zu tun, was vom Sittengesetz als für in sich schlecht eingestuft wird“: „Auf diese Weise entsteht in einigen Fällen eine Trennung oder auch ein Gegensatz zwischen der Lehre von der im allgemeinen gültigen Vorschrift und der Norm des einzelnen Gewissens, das in der Tat letzten Endes über Gut und Böse entscheiden würde. Auf dieser Grundlage maßt man sich an, die Zulässigkeit sogenannter »pastoraler« Lösungen zu begründen, die im Gegensatz zur Lehre des Lehramtes stehen, und eine »kreative« Hermeneutik zu rechtfertigen, nach welcher das sittliche Gewissen durch ein partikulares negatives Gebot tatsächlich nicht in allen Fällen verpflichtet würde. Es gibt wohl niemanden, der nicht begreifen wird, daß mit diesen Ansätzen nichts weniger als die Identität des sittlichen Gewissens selbst gegenüber der Freiheit des Menschen und dem Gesetz Gottes in Frage gestellt wird.“ 

Das Gewissen sei, so der Apostel Paulus, für den Menschen der „Zeuge seiner Treue oder Untreue gegenüber dem Gesetz, das heißt seiner fundamentalen sittlichen Rechtschaffenheit oder Schlechtigkeit“: „Das Gewissen ist der einzige Zeuge: Was im Innersten der menschlichen Person vor sich geht, bleibt den Augen von jedermann draußen verborgen. Es wendet sich mit seinem Zeugnis nur an die Person selber. Und nur die Person wiederum kennt die eigene Antwort auf die Stimme des Gewissens.“ Das Gewissen sei ein „sittliches Urteil über den Menschen und seine Handlungen“: „Es ist ein Urteil, das freispricht oder verurteilt, je nachdem, ob die menschlichen Handlungen mit dem in das Herz eingeschriebenen Gesetz Gottes übereinstimmen oder von ihm abweichen.“ Das Gewissensurteil ordne an, was der Mensch tun oder lassen solle. Es werde dem Menschen „zu einem inneren Gebot, zu einem Anruf, in der konkreten Situation das Gute zu tun“: „Das Gewissen drückt also die sittliche Verpflichtung im Lichte des Naturgesetzes aus: Es ist die Verpflichtung, das zu tun, was der Mensch durch seinen Gewissensakt als ein Gutes erkennt, das ihm hier und jetzt aufgegeben ist.“ Das Gewissensurteil besitze einen „befehlenden Charakter“ – und daraus folgt, praktisch gewendet, etwa auf die Frage zur Kommunionspendung niemals eine Gewissensentscheidung wie: Dann eben jeder so, wie er mag. Dasselbe gilt für die Moraltheologie.

Zugleich betont Johannes Paul II.: „Während das Gewissen das begangene Übel bestätigt, erinnert es auch daran, um Verzeihung zu bitten, das Gute zu tun und unaufhörlich mit Gottes Gnade die Tugend zu üben.“ Unzertrennlich verknüpft bleibt das „Band zwischen Wahrheit und Freiheit“. Darum sei es auch falsch, von willkürlichen, vermeintlich begründeten Gewissensentscheidungen zu sprechen. Das Gewissensurteil lasse sich „nicht an der Befreiung des Gewissens von der objektiven Wahrheit zugunsten einer mutmaßlichen Autonomie der eigenen Entscheidungen messen, sondern im Gegenteil am beharrlichen Suchen nach der Wahrheit und daran, daß man sich von ihr beim Handeln leiten läßt“.

Die „Möglichkeit des Irrtums“ sei stets gegeben, das Gewissensurteil sei nicht unfehlbar. Die Lehre der Kirche ist darum hilfreich und notwendig, bietet Orientierung, um den Menschen zu helfen, ihr Gewissen zu bilden und entsprechend zu urteilen: „Auf jeden Fall beruht die Würde des Gewissens immer auf der Wahrheit: Im Falle des rechten Gewissens handelt es sich um die vom Menschen angenommene objektive Wahrheit, im Falle des irrenden Gewissens handelt es sich um das, was der Mensch ohne Schuld subjektiv für wahr hält.“

Der heilige Papst bekräftigt die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, die eine „große Hilfe für die Gewissensbildung“ darstelle. Er zitiert aus der Konzilserklärung „Dignititatis humanae“: „»Bei ihrer Gewissensbildung müssen jedoch die Christgläubigen die heilige und sichere Lehre der Kirche sorgfältig vor Augen haben. Denn nach dem Willen Christi ist die katholische Kirche die Lehrerin der Wahrheit; ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit, die Christus ist, zu verkündigen und authentisch zu lehren, zugleich auch die Prinzipien der sittlichen Ordnung, die aus dem Wesen des Menschen selbst hervorgehen, autoritativ zu erklären und zu bestätigen«.“

Wir sind heute auch mitten in der Kirche von konzilswidrigen Meinungen förmlich umflutet, besonders in Fragen der Moraltheologie. Auch Theologen und Bischöfe scheinen sich vor der „Autorität der Kirche“ zu fürchten oder dazu berufen zu fühlen, die Lehre der Kirche etwa in der Sexualmoral umzuschreiben oder zu relativieren. Johannes Paul II. schreibt: „Die Autorität der Kirche, die sich zu moralischen Fragen äußert, tut also der Gewissensfreiheit der Christen keinerlei Abbruch: nicht nur, weil die Freiheit des Gewissens niemals Freiheit »von« der Wahrheit, sondern immer und nur Freiheit »in« der Wahrheit ist; sondern auch weil das Lehramt an das christliche Gewissen nicht ihm fremde Wahrheiten heranträgt, wohl aber ihm die Wahrheiten aufzeigt, die es bereits besitzen sollte, indem es sie, ausgehend vom ursprünglichen Glaubensakt, zur Entfaltung bringt. Die Kirche stellt sich immer nur in den Dienst des Gewissens, indem sie ihm hilft, nicht hin- und hergetrieben zu werden von jedem Windstoß der Lehrmeinungen, dem Betrug der Menschen ausgeliefert (vgl. Eph 4, 14), und nicht von der Wahrheit über das Gute des Menschen abzukommen, sondern, besonders in den schwierigeren Fragen, mit Sicherheit die Wahrheit zu erlangen und in ihr zu bleiben.“ Wer in der Wahrheit bleibt, der bleibt auch in der Liebe. Wer dem Credo der Kirche treu bleibt, bindet sich fest an Christus. Wer sich dem Schifflein Petri anvertraut, wird nicht im Gewoge der zeitgeistlichen Beliebigkeit oder in den Fluten der Weltlichkeit versinken.

Quelle: CNA Deutsch, 12. Juni, 2021 

Autor: Dr. Thorsten Paprotny

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